Mann kann nämlich eine Regel für das Betragen gegen andere sehr wohl einsehn, ja, sie selbst auffinden und treffend ausdrücken, und wird dennoch, im wirklichen Leben, gleich darauf, gegen sie verstoßen. Jedoch soll man nicht sich dadurch entmutigen lassen und denken, es sei unmöglich, im Weltleben sein Benehmen nach abstrakten Regeln und Maximen zu leiten, und daher am besten, sich eben nur gehen zu lassen. Sondern es ist damit, wie mit allen theoretischen Vorschriften und Anweisungen für das Praktische: die Regel verstehn ist das Erste, sie ausüben lernen ist das Zweite. Jenes wird durch Vernunft auf einmal, dieses durch Übung allmählich gewonnen. Man zeigt dem Schüler die Griffe auf dem Instrument, die Paraden und Stöße mit dem Rapier451: er fehlt sogleich, trotz dem besten Vorsatze, dagegen, und meint nun sie in der Schnelle des Notenlesens und der Hitze des Kampfes zu beobachten sei schier unmöglich. Dennoch lernt er es allmählich, durch Übung, unter Straucheln, Fallen und Aufstehen. Ebenso geht es mit den Regeln der Grammatik im lateinisch Schreiben und Sprechen. Nicht anders also wird der Tölpel452 zum Hofmann453, der Holzkopf zum feinen Weltmann, der Offene verschlossen, der Edle ironisch. Jedoch wird eine solche, durch lange Gewohnheit erlangte Selbstdressur stets als ein von außen kommender Zwang wirken, welchem zu widerstreben die Natur nie ganz aufhört und bisweilen unerwartet ihn durchbricht. Denn alles Handeln nach abstrakten Maximen verhält sich zum Handeln aus ursprünglicher, angeborener Neigung, wie ein menschliches Kunstwerk, etwa eine Uhr, wo Form und Bewegung dem ihnen fremden Stoffe aufgezwungen sind, zum lebenden Organismus, bei welchem Form und Stoff von einander durchdrungen und eins sind. An diesem Verhältnis der erworbenen zum angeborenen Charakter bestätigt sich demnach ein Ausspruch des Kaisers Napoleon454: Alles Nichtnatürliche ist unvollkommen; welcher überhaupt eine Regel ist, die von allem und jedem, sei es physisch, oder moralisch, gilt, und von der die einzige mir einfallende Ausnahme das, den Mineralogen bekannte, natürliche Aventurino455 ist, welches dem künstlichen nicht gleich kommt. Daher sei hier auch vor aller und jeder Affektion gewarnt. Sie erweckt allemal Geringschätzung: erstlich als Betrug, der als solcher feige ist, weil er auf Furcht beruht; zweitens als Verdammungsurteil seiner selbst durch sich selbst, indem man scheinen will was man nicht ist und was man folglich für besser hält, als was man ist. Das Affektieren irgendeiner Eigenschaft, das Sich-Brüsten damit, ist ein Selbstgeständnis, dass man sie nicht hat. Sei es Mut, oder Gelehrsamkeit, oder Geist, oder Witz, oder Glück bei Weibern, oder Reichtum, oder vornehmer Stand, oder was sonst, womit einer groß tut; so kann man daraus schließen, dass es ihm gerade daran in etwas gebricht; denn wer wirklich eine Eigenschaft vollkommen besitzt, dem fällt es nicht ein, Sie herauszulegen und zu affektieren, sondern er ist darüber ganz beruhigt. Dies ist auch der Sinn des spanischen Sprichwortes: dem klapperndem Hufeisen fehlt ein Nagel. Allerdings darf, wie anfangs gesagt, keiner sich unbedingt den Zügel schießen lassen und sich ganz zeigen, wie er ist; weil das viele Schlechte und Bestialische unserer Natur der Verhüllung bedarf; aber dies rechtfertigt bloß das Negative, die Dissimulation456, nicht das Positive, die Simulation457. – Auch soll man wissen, dass das Affektieren erkannt wird, selbst ehe klar geworden, was eigentlich einer affektiert. Und endlich hält es auf die Länge nicht Stich, sondern die Maske fällt einmal ab. Niemand kann für lange Zeit eine angenommene Maske zur Schau tragen. Alles künstlich Angenommene wird leicht von der Natur wieder durchbrochen.

31. Wie man das Gewicht seines eigenen Körpers trägt, ohne es, wie doch das jedes fremden, den man bewegen will, zu fühlen; so bemerkt man nicht die eigenen Fehler und Laster, sondern nur die der andern. Dafür aber hat jeder am andern einen Spiegel, in welchem er seine eigenen Laster, Fehler, Unarten und Widerlichkeiten jeder Art deutlich erblickt. Allein meistens verhält er sich dabei wie der Hund, welcher gegen den Spiegel bellt, weil er nicht weiß, dass er sich selbst sieht, sondern meint, es sei ein anderer Hund. Wer andere bekrittelt458, arbeitet an seiner Selbstbesserung. Also die, welche die Neigung und Gewohnheit haben, das äußerliche Benehmen, überhaupt das Tun und Lassen der andern im Stillen, bei sich selbst, einer aufmerksamen und scharfen Kritik zu unterwerfen, arbeiten dadurch an ihrer eigenen Besserung und Vervollkommnung: denn sie werden entweder Gerechtigkeit, oder doch Stolz und Eitelkeit genug besitzen, selbst zu vermeiden, was sie so oft strenge tadeln. Von den Toleranten gilt das Umgekehrte: nämlich: diese Freiheit geben wir, für uns selbst, aber verlangen wir sie auch. Das Evangelium moralisiert459 recht schön über den Splitter im fremden, dem Balken im eigenen Auge: aber die Natur des Auges bringt es mit sich, dass es nach außen und nicht sich selbst sieht: daher ist, zum Innewerden der eigenen Fehler, das Bemerken und Tadeln derselben an andern ein sehr geeignetes Mittel. Zu unserer Besserung bedürfen wir eines Spiegels.

Auch hinsichtlich auf Stil und Schreibart gilt diese Regel: wer eine neue Narrheit in diesen bewundert, statt sie zu tadeln, wird sie nachahmen. Daher greift in Deutschland jede so schnell um sich.