Die Deutschen sind sehr tolerant.

32. Der Mensch edlerer Art glaubt, in seiner Jugend, die wesentlichen und entscheidenden Verhältnisse und daraus entstehenden Verbindungen zwischen Menschen seien die ideellen, d. h. die auf Ähnlichkeit der Gesinnung, der Denkungsart, des Geschmacks, der Geisteskräfte usf. beruhenden: allein er wird später inne, dass es die reellen sind, d. h. die, welche sich auf irgendein materielles Interesse stützen. Diese liegen fast allen Verbindungen zugrunde: sogar hat die Mehrzahl der Menschen keinen Begriff von anderen Verhältnissen. Demzufolge wird jeder genommen nach seinem Amt, oder Geschäft, oder Nation, oder Familie, also überhaupt nach der Stellung und Rolle, welche die Konvention ihm erteilt hat: dieser gemäß wird er sortiert und fabrikmäßig behandelt. Hingegen was er an und für sich, also als Mensch, vermöge seiner persönlichen Eigenschaften sei, kommt nur beliebig und daher nur ausnahmsweise zur Sprache und wird von jedem, sobald es ihm bequem ist, also meistenteils, beiseite gesetzt und ignoriert. Je mehr nun aber es mit diesem auf sich hat, desto weniger wird ihm jene Anordnung gefallen, er also sich ihrem Bereich zu entziehen suchen. Sie beruht jedoch darauf, dass in dieser Welt der Not und des Bedürfnisses die Mittel, diesen zu begegnen, überall das Wesentliche, mithin Vorherrschende sind.

33. Wie Papiergeld statt des Silbers, so kursieren460 in der Welt statt der wahren Achtung und der wahren Freundschaft die äußerlichen Demonstrationen und möglichst natürlich mimisierten461 Gebärden derselben. Indessen lässt sich andererseits auch fragen, ob es denn Leute gebe, welche jene wirklich verdienten. Jedenfalls gebe ich mehr auf das Schwanzwedeln eines ehrlichen Hundes, als auf hundert solche Demonstrationen und Gebärden.

Wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und völlig uninteressierte Teilnahme am Wohl und Wehe des andern voraus und diese wieder ein wirkliches sich mit dem Freunde Identifizieren. Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, dass wahre Freundschaft zu den Dingen gehört, von denen man, wie von den kolossalen462 Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft463 sind oder irgendwo existieren. Indessen gibt es mancherlei, in der Hauptsache freilich auf versteckten egoistischen Motiven der mannigfaltigsten Art beruhende Verbindungen zwischen Menschen, welche dennoch mit einem Gran464 jener wahren und echten Freundschaft versetzt sind, wodurch sie so veredelt werden, dass sie in dieser Welt der Unvollkommenheiten mit einigem Fug465 den Namen der Freundschaft führen dürfen. Sie stehen hoch über den alltäglichen Liaisons466, welche vielmehr so sind, dass wir mit den meisten unserer guten Bekannten kein Wort mehr reden würden, wenn wir hörten, wie sie in unserer Abwesenheit von uns reden. Die Echtheit eines Freundes zu erproben, hat man nächst den Fällen, wo man ernstlicher Hilfe und bedeutender Opfer bedarf, die beste Gelegenheit in dem Augenblick, da man ihm ein Unglück, davon man soeben getroffen worden, berichtet. Alsdann nämlich malt sich in seinen Zügen entweder wahre, innige, unvermischte Betrübnis, oder aber sie bestätigen durch ihre gefasste Ruhe oder einen flüchtigen Nebenzug den bekannten Ausspruch des Rochefoucauld: In dem Unglück unserer besten Freunde werden wir immer etwas finden, was uns nicht missfällt. Die gewöhnlichen sogenannten Freunde vermögen bei solchen Gelegenheiten oft kaum das Zucken zu einem leisen, wohlgefälligen Lächeln zu unterdrücken. – Es gibt wenige Dinge, welche so sicher die Leute in gute Laune versetzen, wie wenn man ihnen ein beträchtliches Unglück, davon man kürzlich betroffen worden, erzählt oder auch irgendeine persönliche Schwäche ihnen unverhohlen offenbart. – Charakteristisch! – Entfernung und lange Abwesenheit tun jeder Freundschaft Eintrag467, so ungern man es gesteht. Denn Menschen, die wir nicht sehen, wären sie auch unsere geliebtesten Freunde, trocknen im Laufe der Jahre allmählich zu abstrakten Begriffen auf, wodurch unsere Teilnahme an ihnen mehr und mehr eine bloß vernünftige, ja traditionelle wird: die lebhafte und tiefgefühlte bleibt denen vorbehalten, die wir vor Augen haben, und wären es auch nur geliebte Tiere. So sinnlich ist die menschliche Natur. Also bewährt sich auch bei Goethes Ausspruch:

»Die Gegenwart ist eine mächtige Göttin.«

Die Hausfreunde heißen meistens mit Recht so, indem sie mehr die Freunde des Hauses als des Herrn, also den Katzen ähnlicher als den Hunden sind.

Die Freunde nennen sich aufrichtig; die Feinde sind es: daher man ihren Tadel zur Selbsterkenntnis benutzen sollte, als eine bittere Arznei. –

Freunde in der Not wären selten? – Im Gegenteil! Kaum hat man mit einem Freundschaft gemacht, so ist er auch schon in der Not und will Geld geliehen haben. –

34. Was für ein Neuling ist doch der, welcher wähnt, Geist und Verstand zu zeigen wäre ein Mittel, sich in Gesellschaft beliebt zu machen! Vielmehr erregen sie, bei der unberechenbar überwiegenden Mehrzahl, einen Hass und Groll, der umso bitterer ist, als der ihn Fühlende die Ursache desselben anzuklagen nicht berechtigt ist, ja sie vor sich selbst verhehlet. Der nähere Hergang ist dieser: merkt und empfindet einer große geistige Überlegenheit an dem, mit welchem er redet, so macht er, im Stillen und ohne deutliches Bewusstsein, den Schluss, dass in gleichem Maße der andere seine Inferiorität und Beschränktheit merkt und empfindet. Dieses Enthymem468 erregt seinen bittersten Hass, Groll und Ingrimm.