Mit Recht sagt daher Gracian469: »Das einzigste Mittel beliebt zu sein, ist, dass man sich mit der Haut des einfältigsten der Tiere bekleide.« Ist doch Geist und Verstand an den Tag legen, nur eine indirekte Art, allen andern ihre Unfähigkeit und Stumpfsinn vorzuwerfen. Zudem gerät die gemeine Natur in Aufruhr, wenn sie ihres Gegenteils ansichtig wird, und der geheime Anstifter des Aufruhrs ist der Neid. Denn die Befriedigung ihrer Eitelkeit ist, wie man täglich sehen kann, ein Genuss, der den Leuten über alles geht, der jedoch allein mittelst der Vergleichung ihrer selbst mit andern möglich ist. Auf keine Vorzüge aber ist der Mensch so stolz, wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorrang vor den Tieren. Den Willen, kann man sagen, hat der Mensch sich selbst gegeben, denn der ist er selbst: aber der Intellekt ist eine Ausstattung, die er vom Himmel erhalten hat – d. h. vom ewigen, geheimnisvollen Schicksal und dessen Notwendigkeit, deren bloßes Werkzeug seine Mutter war. Ihm entschiedene Überlegenheit in dieser Hinsicht vorzuhalten, und noch dazu vor Zeugen, ist daher die größte Verwegenheit. Er fühlt sich dadurch zur Rache aufgefordert und wird meistens Gelegenheit suchen, diese auf dem Wege der Beleidigung auszuführen, als wodurch er vom Gebiete der Intelligenz auf das des Willens tritt, auf welchem wir, in dieser Hinsicht alle gleich sind. Während daher in der Gesellschaft Stand und Reichtum stets auf Hochachtung rechnen dürfen, haben geistige Vorzüge solche keineswegs zu erwarten: im günstigsten Fall werden sie ignoriert; sonst aber angesehen als eine Art Impertinenz470, oder als etwas, wozu ihr Besitzer unerlaubterweise gekommen ist und nun sich untersteht damit zu stolzieren; wofür ihm also irgendeine anderweitige Demütigung angedeihen zu lassen, jeder im Stillen beabsichtigt und nur auf die Gelegenheit dazu passt. Kaum wird es dem demütigsten Betragen gelingen, Verzeihung für geistige Überlegenheit zu erbetteln. Sadi471 sagt im Gulistan472: »Man wisse, dass sich bei den Unverständigen hundertmal mehr Widerwillen gegen den Verständigen findet, als der Verständige Abneigung gegen den Unverständigen empfindet.« – Hingegen gereicht geistige Inferiorität zur wahren Empfehlung. Denn was für den Leib die Wärme, das ist für den Geist das wohltuende Gefühl der Überlegenheit; daher jeder, so instinktmäßig wie dem Ofen, oder dem Sonnenschein, sich dem Gegenstande nähert, der es ihm verheißt. Ein solcher nun ist allein der entschieden tiefer Stehende, an Eigenschaften des Geistes bei Männern, an Schönheit bei Weibern. Manchen Leuten gegenüber freilich unverstellte Inferiorität zu beweisen – da gehört etwas dazu. Dagegen sehe man, mit welcher herzlichen Freundlichkeit ein erträgliches Mädchen einem grundhässlichen entgegenkommt. Körperliche Vorzüge kommen bei Männern nicht sehr in Betracht; wiewohl man sich doch behaglicher neben einem kleineren, als neben einem größeren fühlt. Demzufolge also sind unter Männern die dummen und unwissenden, unter Weibern die hässlichen allgemein beliebt und gesucht: sie erlangen leicht den Ruf eines überaus guten Herzens; weil jedes für seine Zuneigung, vor sich selbst und vor andern, eines Vorwandes bedarf. Eben deshalb ist Geistesüberlegenheit jeder Art eine sehr isolierende Eigenschaft: sie wird geflohen und gehasst, und als Vorwand hierzu werden ihrem Besitzer allerhand Fehler angedichtet. Gerade so wirkt unter Weibern die Schönheit: sehr schöne Mädchen finden keine Freundin, ja, keine Begleiterin. Zu Stellen als Gesellschafterinnen tun sie besser, sich gar nicht zu melden: denn schon bei ihrem Vortritt verfinstert sich das Gesicht der gehofften neuen Gebieterin, als welche, sei es für sich, oder für ihre Töchter, einer solchen Folie473 keineswegs bedarf. – Hingegen verhält es sich umgekehrt mit den Vorzügen des Ranges; weil diese nicht, wie die persönlichen, durch den Kontrast und Abstand, sondern, wie die Farben der Umgebung auf das Gesicht, durch den Reflex wirken.
35. An unserm Zutrauen zu andern haben sehr oft Trägheit, Selbstsucht und Eitelkeit, den größten Anteil: Trägheit, wenn wir, um nicht selbst zu untersuchen, zu wachen, zu tun, lieber einem andern trauen; Selbstsucht, wenn das Bedürfnis von unsern Angelegenheiten zu reden uns verleitet, ihm etwas anzuvertrauen; Eitelkeit, wenn es zu dem gehört, worauf wir uns etwas zugute tun. Nichtsdestoweniger verlangen wir, dass man unser Zutrauen ehre.
Über Misstrauen hingegen sollten wir uns nicht erzürnen: denn in demselben liegt ein Kompliment für die Redlichkeit, nämlich das aufrichtige Bekenntnis ihrer großen Seltenheit, infolge welcher sie zu den Dingen gehört, an deren Existenz man zweifelt.
36. Von der Höflichkeit, dieser chinesischen Kardinaltugend474, habe ich den einen Grund angegeben in meiner Ethik; der andere liegt in Folgendem. Sie ist eine stillschweigende Übereinkunft, gegenseitig die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit von einander zu ignorieren und sie sich nicht vorzurücken: wodurch diese, zu beiderseitigem Vorteil, etwas weniger leicht zutage kommt. Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich mittelst ihrer unnötiger- und mutwilligerweise Feinde machen ist Raserei475, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige476, eine offenkundig falsche Münze: mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand; hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Alle Nationen schließen den Brief mit: »Euer ganz ergebenster Diener«, bloß die Deutschen halten mit dem »Diener« zurück, – weil es ja doch nicht wahr sei –! Wer hingegen die Höflichkeit bis zum opfern realer Interessen treibt gleich dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe. – Wie das Wachs, von Natur hart und spröde, durch ein wenig Wärme so geschmeidig wird, dass es jede beliebige Gestalt annimmt, so kann man selbst törichte und feindselige Menschen durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit biegsam und gefällig machen.
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