Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.
Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie verlangt, dass wir allen Leuten die größte Achtung bezeugen, während die allermeisten keine verdienen; sodann, dass wir den lebhaftesten Anteil an ihnen simulieren, während wir froh sein müssen, keinen an ihnen zu haben. – Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen ist ein Meisterstück. –
Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in Äußerungen der Nichtachtung bestehen, viel weniger aus der Fassung geraten, wenn wir nicht einerseits eine ganz übertriebene Vorstellung von unserm hohen Wert und Würde, also einen angemessenen Hochmut hegten, und andererseits uns deutlich gemacht hätten, was in der Regel, jeder vom andern, in seinem Herzen, hält und denkt. Welch ein greller Kontrast ist doch zwischen der Empfindlichkeit der meisten Leute über die leiseste Andeutung eines sie treffenden Tadels und dem, was sie hören würden, wenn sie die Gespräche ihrer Bekannten über sie belauschten! – Wir sollten vielmehr uns gegenwärtig erhalten, dass die gewöhnliche Höflichkeit nur eine grinsende Maske ist: denn würden wir nicht zeter477 schreien, wenn sie einmal sich etwas verschiebt oder auf einen Augenblick abgenommen wird. Wenn aber gar einer geradezu grob wird, da ist es, als hätte er die Kleider abgeworfen und stünde in puris naturalibus478 da. Freilich nimmt er sich dann, wie die meisten Menschen in diesem Zustande, schlecht aus.
37. Für sein Tun und Lassen darf man keinen andern zum Muster nehmen; weil Lage, Umstände, Verhältnisse nie die gleichen sind, und weil die Verschiedenheit des Charakters auch der Handlung einen verschiedenen Anstrich gibt, daher: Wenn zwei das gleiche tun, ist es doch nicht das gleiche. Man muss nach reiflicher Überlegung und scharfem Nachdenken, seinem eigenen Charakter gemäß handeln. Also auch im Praktischen ist Originalität unerlässlich: sonst passt, was man tut, nicht zu dem, was man ist.
38. Man bestreite keines Menschen Meinung; sondern bedenke, dass, wenn man alle Absurditäten479, die er glaubt, ihm ausreden wollte, man Methusalems Alter480 erreichen könnte, ohne damit fertig zu werden.
Auch aller, selbst noch so wohlgemeinten, korrektionellen481 Bemerkungen soll man, im Gespräche, sich enthalten: denn die Leute zu kränken ist leicht, sie zu bessern schwer, wo nicht unmöglich. Wenn die Absurdheiten eines Gesprächs, welches wir anzuhören im Falle sind, anfangen uns zu ärgern, müssen wir uns denken, es wäre eine Komödienszene zwischen zwei Narren. – Wer auf die Welt gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigsten Dingen zu belehren, der kann von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut davon kommt.
39. Wer da will, dass sein Urteil Glauben finde, spreche es kalt und ohne Leidenschaftlichkeit aus. Denn alle Heftigkeit entspringt aus dem Willen: daher wird man diesem und nicht die Erkenntnis, die ihrer Natur nach kalt ist, das Urteil zuschreiben. Weil nämlich das Radikale im Menschen der Wille, die Erkenntnis aber bloß sekundär und hinzugekommen ist, so wird man eher glauben, dass das Urteil aus dem erregten Willen als dass die Erregung des Willens bloß aus dem Urteil entsprungen sei.
40. Auch beim besten Rechte dazu, lasse man sich nicht zum Selbstlobe verführen. Denn die Eitelkeit ist eine so gewöhnliche, das Verdienst aber eine so ungewöhnliche Sache, dass, so oft wir, wenn auch nur indirekt, uns selbst zu loben scheinen, jeder hundert gegen eins wettet, dass, was aus uns redet, die Eitelkeit sei, der es am Verstande gebricht, das Lächerliche der Sache einzusehen. – Jedoch mag, bei allem dem, Bako von Verulan482 nicht ganz Unrecht haben, wenn er sagt, dass das »Etwas bleibt immer hängen«, wie von der Verleumdung, so auch vom Selbstlobe gelte, und daher dieses in mäßigen Dosen empfiehlt.
41. Wenn man argwöhnt, dass einer lüge, stelle man sich gläubig: da wird er dreist, lügt stärker und ist entlarvt. Merkt man hingegen, dass eine Wahrheit, die er verhehlen möchte, ihm zum Teil entschlüpft; so stelle man sich darüber ungläubig, damit er, durch den Widerspruch provoziert, die Arrieregarde483 der ganzen Wahrheit nachrücken lasse.
42. Unsere sämtlichen persönlichen Angelegenheiten haben wir als Geheimnisse zu betrachten, und unsern guten Bekannten müssen wir, über das hinaus, was sie mit eignen Augen sehn, völlig fremd bleiben. Denn ihr Wissen um die unschuldigsten Dinge kann, durch Zeit und Umstände, uns Nachteil bringen. – Überhaupt ist es geratener seinen Verstand durch das, was man verschweigt, an den Tag zu legen, als durch das was man sagt. Ersteres ist Sache der Klugheit, letzteres der Eitelkeit. Die Gelegenheit zu beiden kommt gleich oft: aber wir lieben häufig die flüchtige Befriedigung, welche das letztere gewährt, dem dauernden Nutzen vor, welchen das erstere bringt. Sogar die Herzenserleichterung, einmal ein Wort mit sich selbst laut zu reden, was lebhaften Personen wohl begegnet, sollte man sich versagen, damit sie nicht zur Gewohnheit werde; weil dadurch der Gedanke mit dem Worte so befreundet und verbrüdert wird, dass allmählich auch das Sprechen mit andern ins laute Denken übergeht; während die Klugheit gebeut484, dass zwischen unserm Denken und unsern Reden eine weite Kluft offen gehalten werde.
Bisweilen meinen wir, dass andere etwas uns Betreffendes durchaus nicht glauben können; während ihnen gar nicht einfällt, es zu bezweifeln: machen wir jedoch, dass ihnen dies einfällt, dann können sie es auch nicht mehr glauben. Aber wir verraten uns oft bloß, weil wir wähnen, es sei unmöglich, dass man das nicht merke; – wie wir uns von einer Höhe hinabstürzen, aus Schwindel, d. h. durch den Gedanken, es sei unmöglich, hier fest zu stehen, die Qual aber, hier zu stehn, sei so groß, dass es besser sei, sie abzukürzen: dieser Wahn heißt Schwindel.
Andererseits wieder soll man wissen, dass die Leute, selbst die, welche sonst keinen besonderen Scharfsinn verraten, vortreffliche Algebristen485 in den persönlichen Angelegenheiten anderer sind, woselbst sie, mittelst einer einzigen gegebenen Größe, die verwickeltsten Aufgaben lösen. Wenn man z.
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