B. ihnen eine ehemalige Begebenheit unter Weglassung aller Namen und sonstiger Bezeichnung der Personen erzählt; so soll man sich hüten, dabei ja nicht irgendeinen ganz positiven und individuellen Umstand, sei er auch noch so gering, mit einzuführen, wie etwa einen Ort, oder Zeitpunkt, oder den Namen einer Nebenperson, oder sonst etwas auch nur unmittelbar damit Zusammenhängendes: denn daran haben sie sogleich eine positiv gegebene Größe, mittelst deren ihr algebraischer Scharfsinn alles übrige herausbringt. Die Begeisterung der Neugier nämlich ist hier so groß, dass, kraft derselben, der Wille dem Intellekt die Sporen486 in die Seite setzt, welcher nun dadurch die zur Erreichung der entlegensten Resultate getrieben wird. Denn so unempfänglich und gleichgültig die Leute gegen allgemeine Wahrheiten sind, so erpicht sind sie auf individuelle.
Dem allen gemäß ist denn auch die Schweigsamkeit von sämtlichen Lehrern der Weltklugheit auf das Dringendste und mit den mannigfaltigsten Argumenten anempfohlen worden; daher ich es bei dem Gesagten bewenden lassen kann. Bloß ein paar Arabische Maximen, welche besonders eindringlich und wenig bekannt sind, will ich noch hersetzen. »Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht.« – »Wenn ich mein Geheimnis verschweige, ist es mein Gefangener: lasse ich es entschlüpfen, bin ich sein Gefangener.« – »Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht, der Friede.«
43. Kein Geld ist vorteilhafter angewandt, als das, um welches wir uns haben prellen lassen: denn wir haben dafür unmittelbar Klugheit eingehandelt.
44. Man soll, womöglich, gegen niemanden Animosität487 hegen, jedoch die Taten eines jeden sich wohl merken und im Gedächtnis behalten, um danach den Wert desselben, wenigstens hinsichtlich unserer, festzustellen und demgemäß unser Verhalten und Betragen gegen ihn zu regeln, – stets überzeugt von der Unveränderlichkeit des Charakters: einen schlechten Zug eines Menschen jemals vergessen, ist wie wenn man schwer erworbenes Geld wegwürfe. – So aber schützt man sich vor törichter Vertraulichkeit und törichter Freundschaft. –
»Weder lieben, noch hassen« enthält die Hälfte aller Weltklugheit: »nichts sagen und nichts glauben« die andere Hälfte. Freilich aber wird man einer Welt, welche Regeln, wie diese und die nächstfolgenden nötig macht, gern den Rücken kehren.
45. Zorn oder Hass in Worten, oder Mienen blicken zu lassen ist unnütz, ist gefährlich, ist unklug, ist lächerlich, ist gemein. Man darf also Zorn, oder Hass, nie anders zeigen, als in Taten. Letzteres wird man umso vollkommener können, als man ersteres vollkommener vermieden hat. – Die kaltblütigen Tiere allein sind die giftigen.
46. Sprich ohne Akzent488: diese alte Regel der Weltleute bezweckt, dass man dem Verstande der andern überlasse, herauszufinden, was man gesagt hat: der ist langsam, und ehe er fertig geworden, ist man davon. Hingegen: sprechen mit Akzent heißt zum Gefühle reden; wo denn alles umgekehrt ausfällt. Manchem kann man, mit höflicher Gebärde und freundlichem Ton, sogar wirkliche Grobheiten sagen, ohne unmittelbare Gefahr.
D Unser Verhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend.
47. Welche Form auch das menschliche Leben annehme; es sind immer dieselben Elemente, und daher ist es im Wesentlichen überall dasselbe, es mag in der Hütte, oder bei Hofe, im Kloster, oder bei der Armee geführt werden. Mögen seine Begebenheiten, Abenteuer, Glücks- und Unglücksfälle noch so mannigfaltig sein; so ist es doch damit, wie mit der Zuckerbäcker wäre. Es sind viele und vielerlei gar krause489 und bunte Figuren: aber alles ist aus einem Teig geknetet; und was dem einen begegnet, ist dem, was dem andern – widerfuhr, viel ähnlicher, als dieser beim Erzählen hierin denkt. Auch gleichen die Vorgänge unseres Lebens den Bildern im Kaleidoskop490, in welchem wir bei jeder Drehung etwas anderes sehen, eigentlich aber immer dasselbe vor Augen haben.
48. Drei Weltmächte gibt es, sagt sehr treffend, ein Alter: Klugheit, Stärke und Glück. Ich glaube, dass die zuletzt genannte am meisten vermag. Denn unser Lebensweg ist dem Lauf eines Schiffes zu vergleichen. Das Schicksal spielt die Rolle des Windes, indem sie uns schnell weit fördert, oder weit zurückwirft; wogegen unser eigenes Mühen und Treiben nur wenig vermag. Dieses nämlich spielt dabei die Rolle der Ruder: wenn solche, durch viele Stunden langes Arbeiten, uns eine Strecke vorwärts gebracht haben, wirft ein plötzlicher Windstoß uns eben so weit zurück. Ist er hingegen günstig, so fördert er uns dermaßen, dass wir der Ruder nicht bedürfen. Diese Macht des Glückes drückt unübertrefflich ein spanisches Sprichwort aus: gib deinem Sohne Glück und wirf ihn ins Meer.
Wohl ist der Zufall eine böse Macht, der man so wenig wie möglich anheimstellen soll. Jedoch wer ist, unter allen Gebern, der einzige, welcher, indem er gibt, uns zugleich aufs deutlichste zeigt, dass wir gar keine Ansprüche auf seine Gaben haben, dass wir solche durchaus nicht unserer Würdigkeit, sondern ganz allein seiner Güte und Gnade zu danken haben und dass wir eben hieraus die freudige Hoffnung schöpfen dürfen, noch ferner manche unverdiente Gabe demutsvoll zu empfangen? – Es ist der Zufall: er, der die königliche Kunst versteht, einleuchtend zu machen, dass gegen seine Gunst und Gnade alles Verdienst ohnmächtig ist und nichts gilt.
Wenn man auf seinen Lebensweg zurücksieht, den »labyrintisch491 irren Lauf« desselben überschaut und nun so manches verfehlte Glück, so manches herbeigezogene Unglück sehen muss; so kann man in Vorwürfen gegen sich selbst leicht zu weit gehn.
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