Denn unser Lebenslauf ist keineswegs schlechthin unser eigenes Werk; sondern das Produkt zweier Faktoren, nämlich der Reihe der Begebenheiten und der Reihe unserer Entschlüsse, welche stets ineinandergreifen und sich gegenseitig modifizieren. Hierzu kommt noch, dass in beiden unser Horizont immer sehr beschränkt ist, indem wir unsere Entschlüsse nicht schon von weitem vorhersagen und noch weniger die Begebenheiten voraussehen können, sondern von beiden uns eigentlich nur die gegenwärtigen recht bekannt sind. Deshalb können wir, so lange unser Ziel noch fern liegt, nicht einmal gerade darauf hinsteuern; sondern nur approximativ492 und nach Mutmaßungen unsere Richtung dahin lenken, müssen also oft lavieren493. Alles nämlich, was wir vermögen, ist, unsere Entschlüsse allezeit nach Maßgabe der gegenwärtigen Umstände zu fassen, in der Hoffnung, es so zu treffen, dass es uns dem Hauptziel näher bringe. So sind denn meistens die Begebenheiten und unsere Grundabsichten zweien, nach verschiedenen Seiten ziehenden Kräften zu vergleichen und die daraus entstehende Diagonale494 ist unser Lebenslauf. Wir können sagen: das Schicksal mischt die Karten und wir spielen. Meine gegenwärtige Betrachtung auszudrücken, wäre aber folgendes Gleichnis am geeignetesten. Es ist im Leben wie im Schachspiel: wir entwerfen einen Plan: dieser bleibt jedoch bedingt durch das, was im Schachspiel dem Gegner, im Leben dem Schicksal, zu tun belieben wird. Die Modifikationen, welche hierdurch unser Plan erleidet, sind meistens so groß, dass er in der Ausführung kaum noch an einigen Grundzügen zu erkennen ist.
Übrigens gibt es in unserm Lebenslaufe noch etwas, welches über das alles hinaus liegt. Es ist nämlich eine triviale und nur zu häufig bestätigte Wahrheit, dass wir oft törichter sind, als wir glauben: hingegen ist, dass wir oft weiser sind, als wir selbst vermeinen, eine Entdeckung, welche nur die, so in dem Fall gewesen, und selbst dann erst spät, machen. Es gibt etwas Weiseres in uns, als der Kopf ist. Wir handeln nämlich, bei den großen Zügen, den Hauptschritten unseres Lebenslaufes, nicht sowohl nach deutlicher Erkenntnis des Rechtes, als nach einem inneren Impuls, man möchte sagen Instinkt, der aus dem tiefsten Grunde unseres Wesens kommt, und bemäkeln nachher unser Tun nach deutlichen, aber auch dürftigen, erworbenen, ja, erborgten Begriffen, nach allgemeinen Regeln, fremden Beispielen usf., ohne das »eines schickt sich nicht für alle« genügsam zu erwägen; da werden wir leicht ungerecht gegen uns selber. Aber am Ende zeigt es sich, wer Recht gehabt hat; und nur das glücklich erreichte Alter ist, subjektiv und objektiv, befähigt, die Sache zu beurteilen.
Vielleicht steht jener innere Impuls unter uns unbewusster Leitung prophetischer495, beim Erwachen vergessener Träume, die eben dadurch unserm Leben die Gleichmäßigkeit des Tones und die dramatische Einheit erteilen, die das so oft schwankende und irrende, so leicht umgestimmte Gehirnbewusstsein ihm zu geben nicht vermöchte, und infolge welcher z. B. der zu großen Leistungen einer bestimmten Art Berufene dies von Jugend auf innerlich und heimlich spürt und darauf hinarbeitet, wie die Bienen am Bau ihres Stocks. Für jeden aber ist es das, was Baltasar Gracian nennt: die instinktive große Obhut seiner selbst, ohne welche er zugrunde geht. – Nach abstrakten Grundsätzen handeln ist schwer und gelingt erst nach vieler Übung, und selbst da nicht jedesmal: auch sind sie oft nicht ausreichend. Hingegen hat jeder gewisse angeborene konkrete Grundsätze, die ihm in Blut und Saft stecken, indem sie das Resultat alles seines Denkens, Fühlens und Wollens sind. Er kennt sie meistens nicht in abstracto, sondern wird erst beim Rückblick auf sein Leben gewahr, dass er sie stets befolgt hat und von ihnen, wie von einem unsichtbaren Faden, ist gezogen worden. Je nachdem sie sind, werden sie ihn zu seinem Glück oder Unglück leiten.
49. Man sollte beständig die Wirkung der Zeit und die Wandelbarkeit der Dinge vor Augen haben und daher bei allem, was jetzt stattfindet, sofort das Gegenteil davon imaginieren496; also im Glücke das Unglück, in der Freundschaft die Feindschaft, im schönen Wetter das schlechte, in der Liebe den Hass, im Zutrauen und Eröffnen den Verrat und die Reue, und so auch umgekehrt, sich lebhaft vergegenwärtigen. Dies würde eine bleibende Quelle wahrer Weltklugheit abgeben, indem wir stets besonnen bleiben und nicht so leicht getäuscht werden würden. Meistens würden wir dadurch nur die Wirkung der Zeit antizipiert497 haben. – Aber vielleicht ist zu keiner Erkenntnis die Erfahrung so unerlässlich, wie zur richtigen Schätzung des Unbestandes und Wechsels der Dinge. Weil eben jeder Zustand, für die Zeit seiner Dauer, notwendig und daher mit vollstem Rechte vorhanden ist; so sieht jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag aus, als ob nun endlich er Recht behalten wollte, für alle Ewigkeit. Aber keiner behält es, und der Wechsel allein ist das Beständige. Der Kluge ist der, welchen die scheinbare Stabilität nicht täuscht und der noch dazu die Richtung, welche der Wechsel zunächst nehmen wird, vorhersieht. Dass hingegen die Menschen den einstweiligen Zustand der Dinge oder die Richtung ihres Laufes, in der Regel für bleibend halten, kommt daher, dass sie die Wirkungen vor Augen haben, aber die Ursachen nicht verstehen, diese jedoch sind es, welche den Keim der künftigen Veränderungen in sich tragen; während die Wirkung, welche für jene allein da ist, hiervon nichts enthält. An diese halten sie sich und setzen voraus, dass die ihnen unbekannten Ursachen, welche solche hervorzubringen vermochten, auch imstande sein werden, sie zu erhalten. Sie haben dabei den Vorteil, dass, wenn sie irren, es immer unisono geschieht; daher denn die Kalamität498, welche infolge davon sie trifft, stets eine allgemeine ist, während der denkende Kopf, wenn er geirrt hat, noch dazu allein steht.
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