– Jedoch nur theoretisch, und durch Vorhersehn ihrer Wirkung soll man die Zeit antizipieren, nicht praktisch, nämlich nicht so, dass man ihr vorgreife, indem man vor der Zeit verlangt was erst die Zeit bringen kann. Denn wer dies tut, wird erfahren, dass es keinen schlimmeren, unnachlassenderen Wucherer gibt, als eben die Zeit, und dass sie, wenn zu Vorschüssen gezwungen, schwerere Zinsen nimmt, als irgendein Jude. Z.B. kann man durch ungelöschten Kalk und Hitze einen Baum dermaßen treiben, dass er binnen weniger Tage Blätter, Blüten und Früchte treibt; dann aber stirbt er ab. – Will der Jüngling die Zeugungskraft des Mannes schon jetzt, wenn auch nur auf etliche Wochen ausüben, und im neunzehnten Jahre leisten was er im dreißigsten sehr wohl könnte; so wird allenfalls die Zeit den Vorschuss leisten, aber ein Teil der Kraft seiner künftigen Jahre, ja, ein Teil seines Lebens selbst, ist der Zins. – Es gibt Krankheiten, von denen man gehörig und gründlich nur dadurch genest, dass man ihnen ihren natürlichen Verlauf lässt, nach welchem sie von selbst verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Verlangt man aber sogleich und jetzt, nur gerade jetzt, gesund zu sein; so muss auch hier die Zeit Vorschuss leisten: die Krankheit wird vertrieben: aber der Zins ist Schwäche und chronische499 Übel, zeitlebens. – Wenn man in Zeiten des Krieges oder der Unruhen Geld gebraucht, und zwar sogleich, gerade jetzt; so ist man genötigt, liegende Gründe oder Staatspapiere, für 1/3 und noch weniger ihres Wertes zu verkaufen, den man zum vollen erhalten würde, wenn man der Zeit ihr Recht widerfahren lassen, also einige Jahre warten wollte: aber man zwingt sie, Vorschuss zu leisten. – Oder auch man bedarf einer Summe zu einer weiten Reise: binnen einen oder zweier Jahre könnte man sie von seinem Einkommen zurückgelegt haben. Aber man will nicht warten; sie wird also geborgt oder einstweilen vom Kapital genommen: d.h. die Zeit muss vorschießen. Da ist ihr Zins eingerissene Unordnung in der Kasse, ein bleibendes und wachsendes Defizit, welches man nie mehr los wird. – Dies also ist der Wucher der Zeit; seine Opfer werden alle, die nicht warten können. Den Gang der gemessen ablaufenden Zeit beschleunigen zu wollen, ist das kostspieligste Unternehmen. Also hüte man sich, der Zeit Zinsen schuldig zu werden.

50. Ein charakteristischer und im gemeinen Leben sehr oft sich hervortuender Unterschied zwischen den gewöhnlichen und den gescheuten500 Köpfen ist, dass jene, bei ihrer Überlegung und Schätzung möglicher Gefahren, immer nur fragen und berücksichtigen, was derart bereits geschehen sei; diese hingegen selbst überlegen, was möglicherweise geschehen könne; wobei sie bedenken, dass, wie ein spanisches Sprichwort sagt, was binnen eines Jahres nicht geschieht, geschieht binnen weniger Minuten. Der in Rede stehende Unterschied ist freilich natürlich: denn was geschehn kann zu überblicken erfordert Verstand, was geschehn ist, bloß Sinne.

Unsere Maxime aber sei: opfere den bösen Dämonen! D.h. man soll einen gewissen Aufwand von Mühe, Zeit, Unbequemlichkeit, Weitläufigkeit, Geld oder Entbehrung nicht scheuen, um der Möglichkeit eines Unglücks die Türe zu verschließen: und je größer dieses wäre, desto kleiner, entfernter, unwahrscheinlicher mag jene sein. Die deutlichste Exemplifikation501 dieser Regel ist die Assekurranzprämie502. Sie ist ein öffentlich und von allen auf den Altar der bösen Dämonen gebrachtes Opfer.

51. Über keinen Vorfall sollte man in großen Jubel, oder große Wehklage ausbrechen; teils wegen der Veränderlichkeit aller Dinge, die ihn jeden Augenblick umgestalten kann; teils wegen der Trüglichkeit unseres Urteils über das uns Gedeihliche, oder Nachteilige; infolge welcher fast jeder einmal gewehklagt hat über das, was nachher sich als sein wahres Bestes auswies, oder gejubelt über das, was die Quelle seiner größten Leiden geworden ist. Die hier dagegen empfohlene Gesinnung hat Shakespeare schön ausgedrückt: So viele Anfälle von Freude und Gram habe ich schon empfunden, dass ich nie mehr vom ersten Anblicke des Anlasses zu einem von beiden sogleich mich weibisch hinreißen lasse.

Überhaupt aber zeigt der, welcher bei allen Unfällen gelassen bleibt, dass er weiß, wie kolossal und tausendfältig die möglichen Übel des Lebens sind; weshalb er das jetzt eingetretene ansieht als einen sehr kleinen Teil dessen, was kommen könnte. Dies ist die stoische503 Gesinnung, in Gemäßheit welcher man niemals vergessen soll, wie es um das Menschengeschlecht steht; sondern stets eingedenk sein soll, welch ein trauriges und jämmerliches Los das menschliche Dasein überhaupt ist, und wie unzählig die Übel sind, denen es ausgesetzt ist. Diese Einsicht aufzufrischen, braucht man überall nur einen Blick um sich zu werfen: wo man auch sei, wird man es bald vor Augen haben, dieses Ringen und Zappeln und Quälen, um die elende, kahle, nichts abwerfende Existenz. Man wird danach seine Ansprüche herab stimmen, in die Unvollkommenheit aller Dinge und Zustände sich finden lernen und Unfällen stets entgegen sehn, um ihnen auszuweichen, oder sie zu ertragen. Denn Unfälle, große und kleine, sind das eigentliche Element unseres Lebens. Dies sollte man aber stets gegenwärtig haben; darum jedoch nicht über die stündlichen Enttäuschungen des menschlichen Lebens lamentieren504 und Gesichter schneiden, sondern die Behutsamkeit im Zuvorkommen und Verhüten der Unfälle, sie mögen von Menschen, oder von Dingen ausgehen, so weit treiben und so sehr darin raffinieren505, dass man, wie ein kluger Fuchs, jedem großen oder kleinen Missgeschick (welches meistens nur ein verkapptes Ungeschick ist) säuberlich aus dem Wege geht.

Dass ein Unglücksfall uns weniger schwer zu tragen fällt, wenn wir zum voraus ihn als möglich betrachtet und, wie man sagt, uns darauf gefasst gemacht haben, mag hauptsächlich daher kommen, dass, wenn wir den Fall, ehe er eingetreten, als eine bloße Möglichkeit, mit Ruhe überdenken, wir die Ausdehnung des Unglücks deutlich und nach allen Seiten übersehen und so es wenigstens als ein endliches und überschaubares erkennen; infolge wovon es, wenn es nun wirklich trifft, doch mit nicht mehr, als seiner wahren Schwere wirken kann. Haben wir hingegen jenes nicht getan, sondern werden unvorbereitet getroffen; so kann der erschrockene Geist, im ersten Augenblicke, die Größe des Unglücks nicht genau ermessen: es ist jetzt für ihn unübersehbar, stellt sich daher leicht als unermesslich, wenigstens viel größer dar, als es wirklich ist. Auf gleiche Art lässt Dunkelheit und Ungewissheit jede Gefahr größer erscheinen. Freilich kommt noch hinzu, dass wir für das als möglich antizipierte Unglück zugleich auch die Trostgründe und Abhilfen überdacht, oder wenigstens uns an die Vorstellung desselben gewöhnt haben.

Nichts aber wird uns zum gelassenen Ertragen der uns treffenden Unglücksfälle besser befähigen, als die Überzeugung von der Wahrheit, welche ich in meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens aus ihren letzten Gründen abgeleitet und festgestellt habe, nämlich, wie es daselbst, heißt: »Alles was geschieht, vom größten bis zum kleinsten, geschieht notwendig.« Denn in das unvermeidlich Notwendige weiß der Mensch sich bald zu finden, und jene Erkenntnis lässt ihn alles, selbst das durch die fremdartigsten Zufälle Herbeigeführte, als ebenso notwendig ansehen, wie das nach dem bekanntesten Regeln, und unter vollkommener Voraussicht Erfolgende. Die kleinen Unfälle, die uns stündlich fexieren, kann man betrachten als bestimmt, uns in Übung zu erhalten, damit die Kraft, die großen zu ertragen, im Glück nicht ganz erschlaffe.