Gegen die täglichen Hudeleien506, kleinlichen Reibungen im menschlichen Verkehr, unbedeutende Anstöße, Ungebührlichkeiten anderer, Klatschereien u. dgl. m. muss man ein gehörnter Siegfried507 sein, d.h. sie gar nicht empfinden, weit weniger sich zu Herzen nehmen und darüber brüten; sondern von dem allen nichts an sich kommen lassen, es von sich stoßen, wie Steinchen, die im Wege liegen, und keineswegs es aufnehmen in das Innere seiner Überlegung und Rumination.

52. Was aber die Leute gemeiniglich das Schicksal nennen, sind meistens nur ihre eigenen dummen Streiche. Mann kann daher nicht genug die schöne Stelle im Homer beherzigen, wo er die kluge Überlegung empfiehlt. Denn wenn auch die schlechten Streiche erst in jener Welt gebüßt werden; so doch die dummen schon in dieser; – wie wohl hin und wieder einmal Gnade für Recht ergehen mag.

Nicht wer grimmig, sondern wer klug darein schaut sieht furchtbar und gefährlich aus: – so gewiss des Menschen Gehirn eine furchtbarere Waffe ist, als die Klaue des Löwen.

Der vollkommene Weltmann wäre der, welcher nie in Unschlüssigkeit stockte und nie in Übereilung geriete.

53. Nächst der Klugheit aber ist Mut eine für unser Glück sehr wesentliche Eigenschaft. Freilich kann man weder die eine noch die andre sich geben, sondern ererbt jene von der Mutter und diesen vom Vater: jedoch lässt sich durch Vorsatz und Übung dem davon Vorhandenen nachhelfen. Zu dieser Welt wo »die Würfel eisern fallen«, gehört ein eiserner Sinn, gepanzert gegen das Schicksal und gewaffnet gegen die Menschen. Denn das ganze Leben ist ein Kampf, jeder Schritt wird uns streitig gemacht, und Voltaire sagt mit Recht: nur durch Gewalt erreicht man etwas in dieser Welt, und mit den Waffen in der Hand stirbt man. Daher ist eine feige Seele die, die, sobald Wolken sich zusammenziehen oder wohl gar nur am Horizont sich zeigen, zusammenschrumpft, verzagen508 will und jammert. Vielmehr sei unser Wahlspruch:

Weiche den Übeln nicht aus,
sondern gehe ihnen mit höherem Mute entgegen.

So lange der Ausgang einer gefährlichen Sache nur noch zweifelhaft ist, so lange nur noch die Möglichkeit, dass er ein glücklicher werde, vorhanden ist, darf an kein Zagen gedacht werden, sondern bloß an Widerstand; wie man am Wetter nicht verzweifeln darf, so lange noch ein blauer Fleck am Himmel ist. Ja, man bringe es dahin zu sagen:

Selbst wenn die ganze Welt zusammenstürzt, einen Unerschütterten werden die Trümmer treffen.

Das ganze Leben selbst, geschweige seine Güter, sind noch nicht so ein feiges Beben und Einschrumpfen des Herzens wert:

Drum als Tapfere lebt,
und werfet die tapfere Brust den Schicksalsschlägen entgegen.

Und doch ist auch hier ein Exzess möglich: denn der Mut kann in Verwegenheit ausarten. Sogar ist ein gewisses Maß von Furchtsamkeit zu unserm Bestande in der Welt notwendig.

Kapitel VI

Vom Unterschiede der Lebensalter

Überaus schön hat Voltaire gesagt:

Wer nicht den Verstand seines Alters hat,
der hat all das Unglück seines Alters.

Daher wird es angemessen sein, dass wir, am Schlusse dieser eudämonologischen Betrachtungen, einen Blick auf die Veränderungen werfen, welche die Lebensalter an uns hervorbringen.

Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die Gegenwart inne, und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet ist bloß, dass wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber eine lange Vergangenheit hinter uns sehen; sodann, dass unser Temperament, wie wohl nicht unser Charakter, einige bekannte Veränderungen durchgeht, wodurch jedesmal eine andere Färbung der Gegenwart entsteht.

In einem meiner Hauptwerke habe ich auseinandergesetzt, dass und warum wir in der Kindheit uns viel mehr erkennend, als wollend verhalten. Gerade hierauf beruht jene Glückseligkeit des ersten Viertels unsers Lebens, infolge welcher es nachher wie ein verlorenes Paradies hinter uns liegt. Wir haben in der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig Anregung des Willens: der größere Teil unseres Wesens geht demnach im Erkennen auf. – Der Intellekt ist wie das Gehirn, welches schon im 7. Jahre seine volle Größe erreicht, früh entwickelt, wenn auch nicht reif, und sucht unaufhörlich Nahrung in einer ganzen Welt des neuen Daseins, wo alles, alles, mit dem Reize der Neuheit überfirnißt509 ist. Hieraus entspringt es, dass unsere Kinderjahre eine fortwährende Poesie510 sind. Nämlich das Wesen der Poesie, wie aller Kunst, besteht im Auffassen der Platonischen Idee511, d.h. des Wesentlichen und daher der ganzen Art Gemeinsamen, in jedem einzelnen; wodurch jedes Ding als Repräsentant512 seiner Gattung auftritt, und ein Fall für tausend gilt. Obgleich es nun scheint, dass wir in den Szenen unserer Kinderjahre stets nur mit dem jedesmaligen individuellen Gegenstande, oder Vorgange, beschäftigt seien, und zwar nur sofern er unser momentanes Wollen interessiert; so ist dem doch im Grunde anders. Nämlich das Leben, in seiner ganzen Bedeutsamkeit, steht noch so neu, frisch und ohne Abstumpfung seiner Eindrücke durch Wiederholung, vor uns, dass wir, mitten unter unserm kindischen Treiben, stets im Stillen und ohne deutliche Absicht beschäftigt sind, an den einzelnen Szenen und Vorgängen das Wesen des Lebens selbst, die Grundtypen seiner Gestalten und Darstellungen, aufzufassen. Wir sehen, wie Spinoza513 es ausdrückt, alle Dinge und Personen im Lichte der Ewigkeit. Je jünger wir sind, desto mehr vertritt jedes einzelne seine ganze Gattung. Dies nimmt immer mehr ab, von Jahr zu Jahr: und hierauf beruht der so große Unterschied des Eindrucks, den die Dinge in der Jugend und im Alter auf uns machen. Daher werden die Erfahrungen und Bekanntschaften der Kindheit und frühen Jugend nachmals die stehenden Typen und Rubriken aller späteren Erkenntnis und Erfahrung, gleichsam die Kategorien derselben, denen wir alles Spätere subsumieren, wenn auch nicht stets mit deutlichem Bewusstsein.