Gerade weil dieses Gepräge neu ist,
erkennen wir darin tatsächlich nichts, was dem ähnelt,
was wir Talent nennen. Wir sprechen vielleicht von
Originalität, Zauber, Gespür, Kraft; und dann wird uns
eines Tages klar, dass gerade diese das Talent
ausmachen.
»Gibt es
Werke von Bergotte, in denen er über die Berma spricht?«
fragte ich Swann. – »Ich glaube, in dem Bändchen
über Racine, aber das dürfte vergriffen sein. Vielleicht
hat es inzwischen eine Neuauflage erlebt. Ich werde nachfragen. Ich
kann Bergotte übrigens um alles bitten, was Sie wollen, es
vergeht kaum eine Woche im Jahr, in der er nicht bei uns zu Abend
isst. Er ist der Busenfreund meiner Tochter. Sie gehen zusammen
alte Städte, Kathedralen oder Schlösser
besichtigen.«
Da ich keinen
Begriff von gesellschaftlichen Hierarchien besaß, hatten die
Hindernisse, die mein Vater gegen einen Umgang mit Madame und
Mademoiselle Swann sah, vor allem die Wirkung gehabt, dass ich mir
zwischen ihnen und uns einen großen Abstand vorstellte, und
ihnen in meinen Augen ein besonderes Ansehen verliehen. Ich
bedauerte, dass meine Mutter sich nicht die Haare färbte und
kein Rouge auf die Lippen legte, wie ich von unserer
[142] Nachbarin, Madame Sazerat, über Madame Swann
gehört hatte, und zwar nicht, um ihrem Mann zu gefallen,
sondern Monsieur de Charlus, und ich dachte, dass wir für sie
ein Gegenstand der Verachtung sein müssten, was mir vor allem
wegen Mademoiselle Swann leidtat, von der man mir gesagt hatte,
dass sie ein sehr hübsches Mädchen sei, und von der ich
oft träumte, wobei ich ihr jedesmal das gleiche beliebige und
bezaubernde Gesicht verlieh. Aber nachdem ich an diesem Tag
erfahren hatte, dass Mademoiselle Swann ein Wesen von
allerseltenstem Status war, das sich wie in ihrem natürlichen
Element inmitten solcher Privilegien baden konnte, dass man ihr,
wenn sie ihre Eltern fragte, ob jemand zum Abendessen komme, mit
den lichtvollen Silben des Namens dieses güldenen Gastes
antworten würde, der für sie einfach nur ein alter Freund
der Familie war, Bergotte; dass für sie das vertrauliche
Geplauder bei Tisch, das dem entsprach, was für mich die
Konversation meiner Großtante war, in den Worten Bergottes
über alle die Dinge bestehen würde, die er nicht in seine
Bücher hatte einbringen können und über die ich ihn
so gern seine Prophetien hätte verkünden hören; und
dass schließlich, wenn sie Städte besichtigen wollte, er
sie begleitete, unerkannt und ruhmbeladen an ihrer Seite, wie die
Götter, wenn sie unter den Sterblichen wandeln – da
verspürte ich zugleich mit der Kostbarkeit eines Wesens wie
Mademoiselle Swann, wie plump und dumm ich ihr erscheinen
müsste, und ich erlebte so lebhaft die Süße und die
Unmöglichkeit, die es für mich darstellen würde, ihr
Freund zu sein, dass ich auf der Stelle erfüllt war von
Verlangen und Verzweiflung. Wenn ich fortan an sie dachte, sah ich
sie meistens im Portikus einer Kathedrale, wie sie mir die
Bedeutung der Statuen erklärte und mich mit einem empfehlenden
Lächeln ihrem Freund vorstellte, Bergotte. Und immer
ließ der Zauber all der Vorstellungen, die die Kathedralen in
mir hervorriefen, der Zauber der Hügel der Île-de-France
und der [143] Ebenen der Normandie, seinen Widerschein
auf das Bild fallen, das ich mir von Mademoiselle Swann gemacht
hatte: und das bedeutete, bereit zu sein, sie zu lieben. Wenn wir
glauben, dass jemand an einem unbekannten Leben teilhat, in das
seine Liebe uns Zugang verschaffen könnte, dann ist dies unter
allen Voraussetzungen für die Entstehung einer Liebe gerade
diejenige, die ihr am teuersten ist und durch die ihr der ganze
Rest wohlfeil erscheint. Auch die Frauen, die vorgeben, einen Mann
nur nach seinem Äußeren zu beurteilen, sehen in diesem
Äußeren die Ausstrahlung eines besonderen Lebens. Darum
lieben sie auch Soldaten und Feuerwehrleute; die Uniform macht es
weniger mühsam für den Gesichtssinn; sie glauben, unter
dem Helm ein anderes, ein abenteuerliches und empfindsames Herz zu
küssen; und ein junger Herrscher, ein Erbprinz, braucht in den
fremden Ländern, die er besucht, keine
gleichmäßigen Züge zu haben, wie das für einen
Kulissenschieber vielleicht unabdingbar wäre, um die
schmeichelhaftesten Eroberungen zu machen.
Während
ich also im Garten las – zum großen Unverständnis
meiner Großtante auch dann, wenn nicht Sonntag war, der Tag,
an dem es verboten ist, sich mit etwas Ernsthaftem zu
beschäftigen und an dem sie nicht einmal nähte (an einem
Wochentag hätte sie zu mir gesagt: »Wie du dich wieder
damit vergnügst zu lesen, obwohl doch gar nicht Sonntag ist«, und
dabei dem Wort »Vergnügen« den Sinn von Kinderei
und Zeitverschwendung verliehen) –, unterhielt sich meine
Tante Léonie mit Françoise, in Erwartung der Stunde
Eulalies. Sie erzählte ihr, dass sie gerade Madame Goupil habe
vorbeigehen sehen, »ohne Regenschirm, in dem Seidenkleid, das
sie sich in Châteaudun hat machen lassen. Wenn sie noch viel
vor der Vesper herumlaufen muss, wird sie es ganz schön
verschmutzen.« – »Schon möglich, schon
möglich« (was so viel hieß [144] wie
»möglicherweise auch nicht«), sagte
Françoise, um nicht von vornherein die Möglichkeit
einer besseren Alternative auszuschließen. »Also
wirklich«, sagte meine Tante und schlug sich an die Stirn,
»dabei fällt mir ein, dass ich noch gar nicht erfahren
habe, ob sie erst nach der Erhebung in die Kirche gekommen ist. Ich
muss unbedingt daran denken, Eulalie zu fragen …
Françoise, schauen Sie sich bloß diese schwarze Wolke
hinter dem Kirchturm an und dieses unheilverkündende Licht auf
den Dachschindeln, der Tag wird bestimmt nicht ohne Regen
vorübergehen. Das kann gar nicht so bleiben, dafür ist es
zu heiß. Und das wird auch besser so sein, denn ehe das
Gewitter nicht losgebrochen ist, wird mir auch mein Vichy nicht
bekommen«, fügte meine Tante in jenem Geiste hinzu, dem
der Wunsch, die Verdauung des Vichy zu beschleunigen, unendlich
viel wichtiger war als die Befürchtung, Madame Goupil
könnte sich ihr Kleid beschmutzen. – »Schon
möglich, schon möglich.« – »Und, nicht
wahr, wenn es auf dem Kirchplatz regnet, sind da überhaupt
keine Bäume. Was, schon drei Uhr?« rief meine Tante
plötzlich aus und erbleichte, »dann hat ja die Vesper
schon begonnen, ich habe mein Pepsin vergessen! Jetzt wird mir
klar, warum mir mein Vichy so schwer im Magen
liegt.«
Während
sie sich auf ihr in violetten Samt gebundenes und
goldgeprägtes Brevier stürzte, aus dem sie in der Eile
einige der mit Spitzenbändern gesäumten Bilder auf
vergilbtem Papier herausfallen ließ, die die Festtage
markierten, begann meine Tante, ihre Tropfen einzunehmen und hastig
die heiligen Texte zu lesen, deren Verständnis ihr ein wenig
durch die Ungewissheit getrübt wurde, ob das Pepsin, so
spät nach dem Vichy eingenommen, dieses noch würde
einholen und seine Verdauung begünstigen können.
»Drei Uhr, unglaublich, wie die Zeit
vergeht!«
Ein leichter
Schlag an die Fensterscheibe, als ob etwas dagegen gestoßen
wäre, wurde gefolgt von einem leisen, satten
Schütten [145] wie von Sandkörnern, die man aus
einem darüberliegenden Fenster niedergehen lässt, dann
verstärkte sich das Schütten, wurde
gleichmäßiger, fiel in einen Rhythmus, wurde
fließend, tönend, melodisch, unermesslich, allumfassend:
Es war der Regen. »Na also!, Françoise, was sagen Sie
jetzt? Wie das runterkommt! Aber ich glaube, ich habe das
Glöckchen an der Gartentür gehört, gehen Sie doch
mal nachsehen, wer das sein kann bei einem solchen Wetter.«
Françoise kam zurück: »Das ist Madame
Amédée (meine Großmutter), sie sagt, sie will
einen Spaziergang machen. Das gießt wirklich
tüchtig.« – »Das überrascht mich gar
nicht«, sagte meine Tante und schlug die Augen gen Himmel.
»Ich habe ja schon immer gesagt, dass ihr Geist nicht wie der
anderer Leute beschaffen ist. Jedenfalls ist mir lieber, dass sie
draußen ist als ich.« – »Madame
Amédée tut immer das Gegenteil von dem, was andere
tun«, sagte Françoise mit Milde und behielt sich ihre
Meinung, dass meine Großmutter wohl einen »Stich«
habe, für eine Gelegenheit auf, bei der sie mit den
Dienstboten allein wäre. »Nun ist das Salve vorbei!
Eulalie wird nicht mehr kommen«, seufzte meine Tante;
»sicher hat sie vor dem Wetter Angst gehabt.« –
»Aber es ist noch nicht fünf Uhr, Madame Octave, es ist
erst halb.« – »Wie, halb fünf? Und ich
musste schon die Übergardinen aufziehen, um noch ein bisschen
Tageslicht zu bekommen. Um halb fünf! Acht Tage vor dem
Bittfest*! Ach, meine gute
Françoise!, der liebe Gott muss zornig auf uns sein. Die
Welt von heute hat es aber auch verdient. Wie sagte mein lieber
Octave immer: ›Man hat den lieben Gott ganz vergessen, aber
er rächt sich‹.«
Eine
kräftige Röte belebte die Wangen meiner Tante: Eulalie
war da.
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