Wenn
mein Großvater dann die Aufmerksamkeit der beiden Schwestern
zu erregen suchte, musste er zu jenen praktischen Mitteln Zuflucht
nehmen, die Irrenärzte bei bestimmten mentalen Zuständen
krankhafter Abwesenheit anwenden: wiederholtes Anschlagen eines
Glases mit einer Messerklinge unter gleichzeitigem energischen
Aufruf durch Stimme und Blick – Gewaltmaßnahmen, die
diese Psychiater oft auch in den alltäglichen Umgang mit
gesunden Leuten übernehmen, ob nun aus beruflicher
[36] Gewohnheit, oder aber, weil sie die ganze Welt für ein
bisschen verrückt ansehen.
Weit mehr
interessierte es sie, als meine Tante am Vorabend des Tages, an dem
Swann zum Essen kommen sollte, und an dem er ihnen persönlich
eine Kiste Asti* geschickt hatte, eine Nummer
des Figaro
hochhielt, in der neben dem
Namen eines Bildes aus einer Corot-Ausstellung* die Worte
standen: »Aus der Sammlung Charles Swann«, und zu uns
sagte: »Habt ihr gesehen, dass Swann ›die Ehre
hat‹, im Figaro zu
stehen?« – »Aber ich habe euch ja schon immer
gesagt, dass er viel Geschmack hat«, sagte meine
Großmutter. – »Du natürlich, sobald es darum
geht, anderer Ansicht zu sein als wir«, erwiderte meine Großtante, die wusste, dass
meine Großmutter niemals der gleichen Ansicht war wie sie,
sich jedoch nie ganz sicher war, ob wir ihr selbst
schließlich recht geben würden, und uns deshalb eine
allumfassende Verdammung der Meinungen meiner Großmutter
abzwingen, uns mit Gewalt auf die ihrigen verpflichten wollte. Aber
wir verharrten in Schweigen. Als die Schwestern meiner
Großmutter die Absicht bekundeten, Swann auf diese Notiz
im Figaro
anzusprechen, riet meine
Großtante davon ab. Wann immer sie bei anderen einen noch so
kleinen Vorteil sah, den sie ihr voraushatten, redete sie sich ein,
dass es gar kein Vorteil, sondern ein Übel sei, und bedauerte
sie, um sie nicht beneiden zu müssen. »Ich glaube, dass
ihr ihm damit keine Freude machen würdet; ich jedenfalls bin
sicher, dass es mir sehr peinlich wäre, meinen Namen so
auffällig in der Zeitung gedruckt zu sehen, und ich wäre
ganz und gar nicht geschmeichelt, wenn man mich darauf
anspräche.« Im übrigen versteifte sie sich nicht
darauf, die Schwestern meiner Großmutter umzustimmen; denn
diese trieben aus Abscheu vor aller Gewöhnlichkeit die Kunst,
eine persönliche Anspielung unter ausgeklügelten
Umschreibungen zu verbergen, so sehr ins Extrem, dass sie
häufig sogar demjenigen [37] entging,
dem sie galt. Was meine Mutter betrifft, so war sie völlig von
dem Versuch in Anspruch genommen, meinen Vater zu überreden,
mit Swann zwar nicht etwa über dessen Frau,
wohl aber über seine
Tochter zu sprechen, die er anbetete und der zuliebe er, wie behauptet wurde,
schließlich diese Ehe eingegangen war. »Du brauchtest
zu ihm ja lediglich ein Wort zu sagen, ihn zu fragen, wie es ihr
geht. Das Ganze muss doch so schrecklich für ihn sein.«
Aber mein Vater fuhr auf: »Keinesfalls! Was hast du für
abwegige Vorstellungen. Das wäre absurd.«
Der einzige
unter uns, für den Swanns Besuch zum Gegenstand schmerzlicher
Erwartungen wurde, war jedoch ich. Denn an Abenden, an denen
Gäste da waren oder auch nur Monsieur Swann, kam Maman nicht
in mein Zimmer hinauf*. Ich aß früher als alle anderen zu
Abend und setzte mich dann mit an den Tisch, bis es um acht Uhr
Zeit für mich wurde hinaufzugehen; jenen kostbaren und
zerbrechlichen Kuss, den Maman mir nach unserer Gewohnheit in
meinem Bett in dem Moment, in dem ich einschlief, anvertraute,
musste ich nun vom Esszimmer bis in mein Zimmer befördern und
die ganze Zeit, während ich mich auszog, auf ihn aufpassen,
ohne dass seine Süßigkeit zerbrach, ohne dass seine
beschwingte Keuschheit sich vergoss oder verflüchtigte, und
ausgerechnet an diesen Abenden, an denen es mir so wichtig gewesen
wäre, ihn mit besonderer Behutsamkeit zu empfangen, war es
erforderlich, dass ich ihn mir nahm, ihn mir jäh raubte,
öffentlich, ohne die Zeit und die notwendige Freiheit des
Geistes zu haben, um dem, was ich tat, meine Aufmerksamkeit nach
Art jener manisch Kranken zuzuwenden, die sich zwingen, an nichts
anderes zu denken, während sie eine Tür schließen,
damit, wenn die krankhafte Ungewissheit wieder über sie kommt,
sie ihr siegesgewiss die Erinnerung an den Augenblick, da sie sie
geschlossen haben, entgegenhalten können. Wir waren alle im
Garten, als die zögerlichen zwei Schläge des
[38] Glöckchens erklangen. Man wusste, dass das Swann war;
dennoch sahen sich alle mit fragender Miene an, und meine
Großmutter wurde auf Erkundung ausgeschickt. »Denkt
dran, ihm auf verständliche Weise für seinen Wein zu
danken, ihr wisst, er ist beste Qualität und die Kiste war
riesig«, empfahl mein Großvater seinen beiden
Schwägerinnen. »Fangt nicht an zu tuscheln«, sagte
meine Großtante; »als ob es angenehm wäre, in ein
Haus zu kommen, in dem alles flüstert!« –
»Ah!, da ist ja Herr Swann! Wir wollen ihn fragen, ob er
glaubt, dass morgen schönes Wetter wird«, sagte mein
Vater. Meine Mutter hoffte, ein Wort von ihr könnte all den Kummer, den man
Swann in unserer Familie seit seiner Heirat wohl bereitet hatte,
wieder auslöschen. Es gelang ihr, ihn ein wenig auf die Seite
zu ziehen. Aber ich folgte ihr; ich konnte mich nicht
entschließen, auch nur einen Schritt von ihr zu weichen, wenn
ich daran dachte, dass es nun bald notwendig werden würde, sie
im Esszimmer zurückzulassen und in mein Zimmer hinaufzugehen,
ohne, wie an den sonstigen Abenden, den Trost zu haben, dass sie
kommen und mir gute Nacht sagen würde. »Nun, Herr
Swann«, sagte sie zu ihm, »erzählen Sie mir ein
wenig von Ihrer Tochter; ich bin sicher, dass sie schon einen Sinn
für schöne Kunstwerke hat, wie ihr Vater.« –
»Aber so kommt doch und setzt euch zu uns auf die
Veranda«, sagte mein Großvater und kam heran. Meine
Mutter war gezwungen, abzubrechen, zog aber aus dieser
Beschränkung einen zusätzlichen zarten Gedanken, wie die
guten Dichter, die die Tyrannei des Reimes nötigt, ihre
größten Schönheiten zu ersinnen: »Wir werden
ein andermal über sie sprechen, wenn wir beide allein
sind«, sagte sie halblaut zu Swann. »Nur eine Mutter
kann Sie verstehen. Ich bin sicher, dass die Mutter Ihrer Tochter
meiner Meinung wäre.« Wir versammelten uns alle um den
Eisentisch. Ich hätte es gern fertiggebracht, nicht an die
Stunden der Herzensangst zu denken, die ich diesen Abend allein in
meinem Zimmer [39] verbringen würde, ohne einschlafen
zu können; ich versuchte, mir einzureden, dass sie unwichtig
seien, da ich sie am nächsten Morgen vergessen haben
würde, mich an Vorstellungen von Zukünftigem zu halten,
die mich wie über eine Brücke auf die andere Seite des
nahen Höllenschlundes führen sollten, vor dem mir graute.
Doch mein Geist, angespannt durch meine Erwartungen, krummgebogen
wie der Blick, den ich meiner Mutter zuwarf, ließ auch nicht
einen einzigen fremden Eindruck in sich dringen. Die Gedanken
wurden zwar von ihm eingelassen, aber nur unter der Bedingung, dass
sie jeglichen Anteil von Schönheit oder auch nur
Scherzhaftigkeit, der mich berührt oder abgelenkt hätte,
hinter sich ließen. So wie ein Kranker dank örtlicher
Betäubung in völliger Klarheit eine Operation
mitverfolgen kann, die an ihm vorgenommen wird, ohne das geringste
zu spüren, konnte ich mir Verse aufsagen, die ich liebte, oder
die Anstrengungen beobachten, die mein Großvater unternahm,
um Swann in ein Gespräch über den Herzog von
Audiffret-Pasquier* zu ziehen, ohne dass die
ersteren mich irgendwelche Gefühlsregungen, die letzteren
irgendetwas wie Heiterkeit hätten empfinden lassen. Besagte
Anstrengungen waren übrigens fruchtlos. Kaum hatte mein
Großvater an Swann eine Frage bezüglich dieses
großen Redners gerichtet, als auch schon eine der Schwestern
meiner Großmutter, in deren Ohren diese Frage widerhallte wie
eine tiefe, aber peinliche Stille, die zu brechen nur
höflich
wäre, der anderen zurief: »Stell dir nur vor,
Céline, ich
habe eine junge schwedische Lehrerin kennengelernt, die mich
in hochinteressante
Einzelheiten des Genossenschaftswesens in den skandinavischen
Ländern eingeweiht hat. Sie muss unbedingt einmal zum
Abendessen zu uns kommen.« – »Das will ich gern
glauben!« antwortete ihre Schwester Flora*, »aber
ich habe meine Zeit auch nicht vergeudet. Ich habe bei Monsieur
Vinteuil einen alten Gelehrten getroffen, der Maubant gut kennt und
dem Maubant* in [40] größter Ausführlichkeit erklärt hat,
wie er die Gestaltung einer Rolle anpackt.
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