Das ist
außerordentlich interessant. Er ist ein Nachbar von Monsieur
Vinteuil, ich wusste das gar nicht; und er ist sehr
liebenswürdig.« – »Nicht nur Monsieur
Vinteuil hat sehr nette Nachbarn!« rief meine Tante
Céline mit einer Stimme, die die Schüchternheit zu laut
und der Vorbedacht gekünstelt klingen ließen, wobei sie
auf Swann das warf, was sie einen inhaltsschweren Blick nannte.
Derweilen sah meine Tante Flora, die erkannt hatte, dass diese
Wendung der Dank Célines für die Kiste Asti war,
ebenfalls Swann mit einer Miene an, in der sich Anerkennung und
Ironie vermischten, sei es nun einfach, um den Geistesblitz ihrer
Schwester zu unterstreichen, oder sei es, weil sie Swann darum
beneidete, ihn ausgelöst zu haben, oder sei es gar, weil sie
ihn auf dem Präsentierteller wähnte und sich nicht
enthalten konnte, sich über ihn lustig zu machen. »Ich
glaube, es könnte einem gelingen, diesen Herrn zum Abendessen
einzuladen«, fuhr Flora fort, »wenn man ihn auf Maubant
bringt oder auf Madame Materna*, redet er stundenlang, ohne
aufzuhören.« – »Das wäre einfach zu
schön«, seufzte mein Großvater, in dessen Geist
die Natur unglücklicherweise versäumt hatte, die
Voraussetzungen für ein leidenschaftliches Interesse am
schwedischen Genossenschaftswesen oder am Rollenstudium Maubants
anzulegen, wie sie auch vergessen hatte, den Geist der Schwestern
meiner Großmutter mit jenem Körnchen Salz auszustatten,
das man selbst beisteuern muss, um Geschmack an einer
Erzählung über das Intimleben Molés oder des
Grafen von Paris finden zu können. »Warten Sie«,
sagte Swann zu meinem Großvater, »was ich Ihnen
erzählen will, hat mit dem, wonach Sie mich gefragt haben,
mehr zu tun, als es zuerst den Anschein haben mag, denn in
bestimmter Hinsicht haben sich die Dinge nicht wesentlich
geändert. Mir fiel heute morgen bei Saint-Simon* eine
Sache auf, die Ihnen Vergnügen bereiten dürfte.
Sie [41] steht in dem Band über seine Zeit als
Botschafter in Spanien; es ist nicht einer der besten, kaum mehr
als ein Tagebuch, aber ein wundervoll geschriebenes Tagebuch, was
schon einen grundlegenden Unterschied zu den sterbenslangweiligen
Zeitungen bedeutet,
die wir morgens und abends meinen lesen zu müssen.«
– »Da bin ich nicht Ihrer Meinung, es gibt Tage, an
denen mir die Zeitungslektüre außerordentlich erfreulich
erscheint …«, unterbrach meine Tante Flora, um zu
zeigen, dass sie den Satz über Swanns Corot im
Figaro gelesen hatte. »Wenn von Sachen
oder von Leuten die Rede ist, die uns interessieren!«
überbot sie meine Tante Céline. »Dagegen ist
nichts zu sagen«, erwiderte Swann verblüfft. »Was
ich den Zeitungen* vorwerfe, ist, dass sie uns
Tag für Tag dazu anhalten, den unerheblichsten Dingen unsere
Aufmerksamkeit zu schenken, wogegen wir höchstens drei- oder
viermal in unserem Leben die Bücher lesen, in denen
wesentliche Dinge stehen. In dem Augenblick, in dem wir morgens
fieberhaft die Banderole von der Zeitung reißen, sollte man
alles vertauschen und in die Zeitung …, ja, ich weiß
nicht, die … Pensées von Pascal* setzen!« (Er hob diesen
Titel mit einer ironischen Betonung hervor, um nicht
schulmeisterlich zu wirken.) »Und in dem Band mit
Goldschnitt, den wir höchstens einmal alle zehn Jahre
aufschlagen«, fügte er hinzu, wobei er jene Herablassung
gegenüber den weltlichen Dingen bezeugte, in der sich manche
Männer von Welt gefallen, »würden wir dann lesen,
dass die Königin von Griechenland* nach Cannes gereist ist,
oder dass die Prinzessin von Léon* ein
Kostümfest gegeben hat. Damit wäre das richtige
Verhältnis wiederhergestellt.« Aber dann bedauerte er,
dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, von ernsthaften
Dingen zu reden, wenn auch nur ein bisschen, und fügte
ironisch hinzu: »Da führen wir ja wirklich eine
schöne Unterhaltung; ich weiß gar nicht, warum wir uns
auf solche ›Gipfel‹ begeben«, und sich zu
meinem Großvater wendend: »Also, Saint-Simon
erzählt, [42] dass Maulévrier die Dreistigkeit
besessen habe, seinen, Saint-Simons, Söhnen die Hand zu
reichen*. Sie wissen schon, das ist der
Maulévrier*, von dem er sagt:
›Niemals habe ich in dieser dicken Flasche etwas anderes
gesehen als Übellaunigkeit, Grobheit und
Narreteien.‹« – »Dick oder nicht dick, ich
kenne Flaschen mit ganz anderem Inhalt«, sagte Flora lebhaft,
die Wert darauf legte, sich ebenfalls bei Swann bedankt zu haben,
denn das Weingeschenk war an beide adressiert gewesen.
Céline begann zu lachen. Swann fuhr verwirrt fort:
»›Ich weiß nicht, ob es Dummheit war oder eine
Falle‹, schreibt Saint-Simon, ›aber er wollte meinen
Kindern die Hand geben. Ich bemerkte es noch zeitig genug, um ihn
daran zu hindern.‹« Mein Großvater begeisterte
sich schon über das »Dummheit oder Falle«, aber
Mademoiselle Céline, bei der der Name Saint-Simon –
ein Schriftsteller! – eine umfassende Betäubung der
auditiven Fähigkeiten verhindert hatte, empörte sich
bereits: »Wie? Das finden Sie auch noch gut? Also wirklich!
Das ist ja reizend! Aber was soll das denn überhaupt bedeuten;
ist nicht ein Mensch so gut wie der andere? Was soll das denn
ausmachen, ob er Herzog ist oder Kutscher, wenn er Verstand hat und
Herz? Der hatte ja eine schöne Art, seine Kinder aufzuziehen,
Ihr Saint-Simon, wenn er ihnen nicht beigebracht hat, allen
anständigen Menschen die Hand zu geben. Das ist ganz einfach
abstoßend. Und Sie scheuen sich nicht, dergleichen
wiederzugeben?« Und mein gequälter Großvater, der
merkte, dass es angesichts dieses hinhaltenden Widerstandes
unmöglich sein würde, Swann zur Erzählung jener
Geschichten zu bewegen, die ihn unterhalten hätten, sagte
leise zu Maman: »Erinner mich doch an den Vers, den du mir
beigebracht hast und der mich in solchen Augenblicken tröstet.
Ach ja!, ›So manche Tugend, Herr, lehrest du uns
hassen!‹* Ah!, das tut wirklich gut!«
Ich ließ
meine Mutter nicht aus den Augen, denn ich wusste, dass man mir,
säße man erst einmal bei Tisch, nicht erlauben
[43] würde, während des ganzen Abendessens
dabeizubleiben, und dass Maman, um meinen Vater nicht zu
verstimmen, sich nicht wiederholt und vor aller Augen umarmen
lassen würde, wie wenn wir in meinem Zimmer gewesen
wären. Außerdem nahm ich mir vor, schon im Esszimmer,
während man mit der Mahlzeit beginnen und ich meine Stunde
nahen fühlen würde, im voraus aus diesem Kuss, der kurz
und flüchtig sein würde, alles zu machen, was ich allein
daraus machen könnte, mit meinem Blick die Stelle auf ihrer
Wange auszuwählen, die ich liebkosen würde, meine
Gedanken vorzubereiten, auf dass ich, dank dieses vorgestellten
Beginns des Kusses, die ganze Minute, die Maman mir zugestehen
würde, dem Gefühl ihrer Lippen an meiner Wange widmen
könnte, so wie ein Maler, der nur kurze Modellsitzungen
bekommen kann, seine Palette vorbereitet und sich im vorhinein aus
seinen Skizzen alles Nötige in Erinnerung ruft, um
gegebenenfalls auch auf die Anwesenheit des Modells verzichten zu
können. Aber nein!, noch bevor zum Essen gerufen wurde,
besaß mein Großvater die unbewusste Grausamkeit zu
sagen: »Der Kleine sieht müde aus, er sollte hinaufgehen
und schlafen. Wir essen heute sowieso spät.« Und mein
Vater, der nicht so gewissenhaft wie meine Mutter und meine
Großmutter auf Vertragstreue achtete, sagte: »Ja, los,
geh zu Bett.« Als ich gerade dabei war, Maman zu umarmen,
hörte man die Tischglocke. »Also wirklich, nun lass
deine Mutter los, ihr habt euch auch so schon genug gute Nacht
gesagt, diese Darbietungen sind albern. Los, nach oben!« Und
es blieb mir nichts anderes übrig, als ohne
Wegzehrung* davonzugehen, jede einzelne
Stufe der Treppe mit, wie der Volksmund sagt, »widrigem
Herzen« hinaufzusteigen, wider mein Herz hinaufzusteigen, das
zu meiner Mutter zurückkehren wollte, da sie ihm nicht, indem
sie mich umarmte, die Erlaubnis erteilt hatte, mir zu folgen. Diese
verwünschte Treppe, die ich immer so niedergeschlagen in
Angriff nahm, strömte einen [44] Geruch
von Firnis aus, der auf irgendeine Weise diese besondere Art des
Kummers, den ich jeden Abend wieder verspürte, in sich
aufgesogen hatte, ihn in sich bewahrte, und ihn für mein
Empfinden womöglich noch heftiger machte, weil mein Verstand
auf ihn in dieser geruchlichen Ausprägung keinen Zugriff
hatte. Wenn wir schlafen und ein geringfügiger Zahnschmerz
vorerst von uns nur in Gestalt eines jungen Mädchens
wahrgenommen wird, das wir zweihundertmal hintereinander aus dem
Wasser zu ziehen versuchen, oder nur als ein Vers von
Molière*, den wir uns ohne Unterlass
immer wieder aufsagen, dann ist es eine große Erleichterung
aufzuwachen, damit unser Verstand den Gedanken des Zahnschmerzes
von seiner heldenhaften oder rhythmischen Verkleidung befreien
kann. Das Gegenteil dieser Erleichterung aber erfuhr ich, wenn der
Kummer, in mein Zimmer hinaufzusteigen, auf eine ungeheuer
schnelle, fast augenblickliche, dabei hinterhältige und
ungestüme Weise durch das Einatmen – viel giftiger als
die seelische Durchdringung – dieses der Treppe
eigentümlichen Geruchs nach Firnis von mir Besitz ergriff. War
ich schließlich in meinem Zimmer, musste ich alle
Durchgänge zusperren, die Läden schließen, die
Laken auseinanderschlagen und so mein eigenes Grab bereiten, das
Leichentuch meines Nachthemdes anlegen. Doch bevor ich mich in
meinem Eisenbett begrub, das man zusätzlich in mein Zimmer
gestellt hatte, weil mir im Sommer unter den Ripsvorhängen des
Himmelbettes zu warm geworden war, ergriff mich der Drang, mich
aufzulehnen, ich wollte es mit der List eines Verurteilten
versuchen. Ich schrieb meiner Mutter und bat sie inständig, in
einer wichtigen Sache heraufzukommen, die ich ihr in meinem Brief
nicht sagen könne. Ich hatte nur Angst, dass Françoise,
die die Köchin meiner Tante war und den Auftrag hatte, sich um
mich zu kümmern, während ich in Combray war, die
Zustellung meiner Nachricht ablehnen würde. Ich
fürchtete, dass es ihr ebenso [45] undenkbar erscheinen müsse, meiner Mutter vor allen
Gästen eine Botschaft zu überbringen, wie dem Portier
eines Theaters, einem Schauspieler auf offener Bühne einen
Brief zu übergeben. Sie besaß hinsichtlich der Dinge,
die man tut und die man nicht tut, einen gebieterischen,
überreichen, fein- und starrsinnigen Kodex voller
unbegreiflicher und müßiger Fallunterscheidungen (darin
den altertümlichen Gesetzen ähnlich, die gleich neben
blutrünstigen Vorschriften wie der, die Kinder an der
Mutterbrust zu ermorden*, mit übertriebenem
Zartgefühl verbieten, das Zicklein in der Milch seiner Mutter
zu kochen* oder von einem Tier die Schenkelsehne zu
essen*). Wollte man nach der
plötzlichen Dickköpfigkeit urteilen, mit der sie sich
weigerte, bestimmte unserer Aufträge auszuführen, so
schien dieser Kodex eine mondäne Kultiviertheit und eine
gesellschaftliche Komplexität vorauszusehen, die nichts in
Françoises Umfeld oder in ihrem dörflichen
Hausangestelltendasein ihr hatte nahelegen können; und es
blieb einem dann nichts anderes übrig, als sich zu sagen, dass
sie eine sehr alte französische Vergangenheit in sich trug,
edel und kaum begriffen, so wie in den Fabrikstädten alte
Stadtvillen bezeugen, dass es hier einstmals ein höfisches Leben gab, und wo die
Arbeiter einer
chemischen Fabrik zwischen zartsinnigen Skulpturen arbeiten, die
das Wunder des heiligen Theophilus* oder die vier
Haimonskinder* darstellen.
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