Jahraus und -ein sitzt man am stillen Schreibtisch und kämmt zerzauste Eisenbahnkonzessionen aus oder paragraphiert Gesetzentwürfe, wie sie aus den Zusätzen und Abstimmungen von einem oder zwanzig Dutzenden turbulenter Köpfe hervorgegangen sind, vielleicht in einem kurzen Jahrzehnt zum zweiten und dritten Mal über denselben Gegenstand. Indem man die Promulgation des Neuesten besorgt und in dem abgegriffenen Handexemplar der Gesetzsammlung, das schon von den Randglossen entschlafener Vorgänger bedeckt ist, wieder Seite um Seite aufgehobener Bestimmungen durchstreicht, die man vor wenig Jahren vielleicht selbst in diesem papiernen Tempel aufgehangen hat, empfindet man nicht immer den rechten Respekt vor dem frischen Wehen des Lebens, dem stürmischen Vorschritt des Volkes, der solchen Wechsel bedingt. Der Schreiber fühlt sich nur als Danaide mit dem Wassersieb in der Hand, er sieht nur die Vergänglichkeit der Dinge, hört nur das Abschnarren eines Uhrwerkes, aus welchem die Hemmung weggenommen ist. Für seine Person wäre er friedlich und genügsam; er bedürfte nicht so vieler Änderungen, um mit seinen Nebenmenschen auszukommen, und so sehr er Freiheit und Recht liebt, so wenig liegt ihm an einem bißchen mehr oder weniger Detail, an der ewigen Topfguckerei. Wenn der alte Thorwaldsen etwa aufmerksam gemacht wurde, wie seine Marmorarbeiter die Modelle im einzelnen zuweilen nicht sauber und genau genug ausführten, soll er geantwortet haben, er wisse das wohl, allein es komme ihm hierauf nicht an, er sehe aufs Ganze. Seine Werke seien hoffentlich so beschaffen, daß sie ein bißchen bessere oder schlechtere Ausführung ertragen können.
Mit diesem Gleichnis fallen wir freilich aus dem Ton, da es staatsrechtliche mit künstlerischen Verhältnissen zusammenwirft, wenigstens für das äußere Auge des richtigen Staatsrechtsbeflissenen. Allein es führt bequem aus der amtlichen Schreibstube, die ich nun fünfzehn Jahre bewohnt habe, in die andere, die literarische, hinüber, in die ich vor kurzem zurückgekehrt bin. Indem ich während jener Zeit die Stelle des Staatsschreibers des Kantons Zürich versah, befolgte ich den bekannten Rat, dem poetischen Dasein eine sogenannte bürgerlichsolide Beschäftigung unterzubreiten. Glücklicherweise war es aber weder eine ganze noch eine halbe Sinekure, so daß keine von beiden Tätigkeiten nebensächlich betrieben werden konnte und das Experiment in Gestalt einer langen Pause vor sich gehen mußte, während welcher die eine Richtung fast ganz eingestellt wurde. Gewiß sind viele vortreffliche Einzelsachen und wirkliche Meisterwerke in den Mußestunden neben lebenslanger anderweitiger Berufserfüllung entstanden; es wird aber immer der Umfang oder die Natur solcher Werke die Mutterschaft bloßer Mußestunden von selbst dartun, und wer Volles und Schweres in der Vielzahl mußestündlich glaubt vollbringen zu können, wird, wenn er lange lebt und weise ist, seine Illusion selber noch zerrinnen sehen.
Bei meiner Wenigkeit hat sich nun ein Mittelweg herausgebildet, wenn auch ohne eigentlichen Vorbedacht, indem statt eines lebenslänglich verteilten prosaischen Berufswesens eine Konzentration auf eine Reihe von Jahren, mit Ausschluß jedes empfindsamen Mußelebens, sich eingestellt hat. Als die alte Republik Zürich, welche unter verschiedenem Regimente von jeher solchen mäzenatischen Anwandlungen unterlegen ist, mir das Amt ihres Schreibers gab, mußte ich mich vom ersten bis zum letzten Augenblicke in den Geschäften tummeln und genoß zehn Jahre lang nicht einmal eines Urlaubes, und ich glaube, es ist mir das gesunder gewesen als ein schläfriges System gemischter Bureau- und Mußestunden. Die Anlehnung an jene solide Bürgerlichkeit, an das Holzhacken Chamissos, hat einmal stattgefunden, ihren Dienst getan und kann nun wieder mit einer andern ungeteilten Existenz vertauscht werden, denn die Hauptsache besteht, nach gewonnener Haltung und Elastizität, nicht sowohl in den sicheren Einkünften, als in der entschlossenen Lebensäußerung.
Trete ich jetzt, vielleicht mit hellerem Auge, als in meiner Jugend geschehen, neuerdings in die literarische Welt hinaus, so sieht es freilich auf den ersten Anblick bänglich aus. Der herrschende Industrialismus und die Wut der Maler und Dichter, sich im römischen Cäsarismus, in der sogenannten Dekadenz zu baden, lassen uns fast der Verse Juvenals gedenken:
Wir nun treiben es doch und ziehn im lockeren Staube
Furchen und werfen den Strand mit fruchtlos ackerndem Pflug um.
Suchtest du auch zu fliehn, dich hält im Netze des eitlen
Übels Gewohnheit fest, unheilbar hält in den Banden
Viele der Schreibsucht Leid und verdorrt mit dem krankenden Herzen.
Allein es ist am Ende nicht so schlimm, als es aussieht, und mehr oder weniger stets so gewesen.
Auch sind bei uns, wie in allen Literaturen, jederzeit drei oder vier böse Kerle vorhanden, die wohl wissen, was recht ist, aber unablässig das Gegenteil davon tun, arme Bursche, die einst ihren Eltern nicht gehorcht und später keine Zeit mehr gefunden haben, sich selbst zu erziehen. Diese quälen sich aber selbst am meisten, und man braucht ja nicht hinzusehen. Dagegen ist gewiß, daß noch jetzt jeder, der etwas Rechtes will und kann, in der Regel auch ein anständiger und wohlwollender Gesell ist, der nach getaner Arbeit sein kluges Pfeifchen in Ruhe zu rauchen versteht und nicht immer von bösen Mücken geplagt ist. Diese Zunft bedarf gar keiner besondern persönlichen Geheimbünde; ihre Mitglieder brauchen sich nicht gegenseitig durch fortwährendes Vergleichen und Zänkeln und Eifersüchteln zu ärgern, und es ist jedem vollkommen gleichgültig, ob sein Nebenmann ein großer Raphael oder ein kleiner Niederländer sei, wenn er nur weiß, daß der Mann seine Farben reinlich und ehrlich mischt.
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Betrachte ich nun meine geringfügige Gestalt, wie sie in der literarischen Gemeindestube in der Nähe der Türe sitzt, etwas genauer, so gehört sie zu jener zweifelhaften Geisterschar, welche mit zwei Pflügen ackert und in den Nachschlagebüchern den Namen »Maler und Dichter« führt. Sie sind es, bei deren Dichtungen der Philister jeweilen beifällig ausruft: Aha, hier sieht man den Maler! und vor deren Gemälden: Hier sieht man den Dichter! Die Naiveren unter ihnen tun sich wohl etwas zugute auf solches Lob; andere aber, die ihren Lessing nicht vergessen, fühlen sich ihr Leben lang davon beunruhigt, und es juckt sie stets irgendwo, wenn man von der Sache spricht. Jene blasen behaglich auf der Doppelflöte fort, diese entsagen bei erster Gelegenheit dem einen Rohr, so leid es ihnen tut.
Die Frage des Berufenseins läßt sich nach meiner Meinung mit dem trivial scheinenden Satze beantworten: Dasjenige, was dem Menschen zukommt, kann er bis zu einem gewissen Grade schon im Anfang, ohne es sichtlich gelernt zu haben oder wenigstens ohne daß ihm das Lernen schwer fällt; dasjenige, dessen Erlernung ihm schon im Anfange Verdruß macht und nicht recht vonstatten gehen will, kommt ihm nicht zu. Unfähige Lehrer können allerdings manche täuschende Störung und Umdrehung dieses Verhältnisses bewirken, indem sie im einen Falle unverdient einschüchtern, im andern aufmuntern; der schließliche Erfolg wird immer der gleiche sein. Daß das eigentliche Lernen erst dort beginnt, wo die Schulbank ihr Ende hat und die Stilfrage auftritt, ist eine Sache für sich.
In sehr früher Zeit, schon mit dem fünfzehnten Jahre, wendete ich mich der Kunst zu, soviel ich beurteilen kann, weil es dem halben Kinde als das Buntere und Lustigere erschien, abgesehen davon, daß es sich um eine beruflich bestimmte Tätigkeit handelte. Denn ein »Kunstmaler« zu werden, war, wenn auch schlecht empfohlen, doch immerhin bürgerlich zulässig. Der Zufall, daß nur angebliche Landschafter am Orte zugänglich für mich waren, entschied für die Landschaftsmalerei, bei welcher ich denn auch bis ungefähr ins dreiundzwanzigste Jahr verblieb, ohne jenes Selbstkönnen und Leichtlernen in den Anfängen und dazu noch stets übel beraten. Vor ein paar Jahrzehnten durfte man noch nicht eine glänzende Kleckserei für eine Landschaft oder überhaupt für ein Bild ausgeben. Dasselbe mußte mit Verständnis gezeichnet und technisch wohl vorbereitet und fertig gemacht sein. Auf der andern Seite gerieten just um jene Zeit die gelehrten Landschaften, welche ohne Farbe mehr einen literarischen Gedanken als ein gutes Stück Natur darstellten, welcher Richtung ich mich eben wegen des Nichtkönnens mit Energie zuwendete, außer Kurs, und es war nicht mehr möglich, mit dergleichen zu Anerkennung oder gar zu einer akademischen Professur zu gelangen.
Während dieser ganzen Zeit und vielleicht schon vom zwölften Jahre an war ich ein fleißiger Leser und Schreiber; ersteres in der Weise, daß ich ganz früh von einem Buche zum andern literarhistorische Stichworte der damals schon verwichenen Periode ablauschte und die entsprechenden Schriften aufsuchte. Zu jener Zeit entleerten sich noch eine Reihe von alten Familienbibliotheken in die Auktionslokale der Antiquare, so daß aus dem reichen Erbe der Vergangenheit junge Adepten leicht zu Büchern gelangen konnten. Es war dies jedoch keine spezifisch zürcherische Erscheinung. Noch jetzt kommen z.B. aus den alten Bergschlössern Graubündens zahlreiche Werke der französischen und spanischen Literatur des 17. und 18.
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