Mondlicht fiel durchs Gezweig und machte sein Gesicht außerordentlich schön. Lätizia sah seine großen weißen Zähne glitzern, sie machte sich von ihm los und schlang den linken Arm um den Stamm der Tanne.
Da war nun alles, wonach sie sich gesehnt hatte. Da war Gefahr und Begehrtsein, Mondnacht und Wildnis, ferne Musik und heimliches Beisammensein. Aber ihr Blut war ruhig, sie war noch ein Kind.
Wie Christian das an den Baum geschmiegte Mädchen anschaute, mit ihren verwirrten Haaren, den brennenden Wangen, den feuchten Augen und feuchten Lippen, maß er die Linie ihres Körpers, schmeckte er schon die Kühle ihrer Haut, roch er ihren unschuldigen Atem. Er zögerte nicht mehr, sich der Beute zu bemächtigen. Da gab es kein Bedenken.
Er griff nach ihrer Hand; plötzlich gewahrte er eine Kröte, die mit ekelhafter Langsamkeit über Lätizias weißes Kleid kroch, erst über den unteren Saum, dann gegen die Hüfte empor. Er erblaßte und kehrte sich ab. »Die andern warten vielleicht, wir müssen zurück,« sagte er und fing an über die Felsen hinunterzugehen.
Mit starren Augen sah ihm Lätizia nach. Das feurige Gefühl von sich selbst als einem Märchenwesen, Diana oder Melusine, wurde zum Schmerz, und sie brach in Tränen aus. Sie wußte das Geschehene auf keine Weise zu deuten, und ihr Kummer hielt so lange an, bis sie sich durch irgendeine reizvolle Verknüpfung das Unverständliche doppelt unverständlich, aber für ihr Gemüt tröstlich gemacht hatte. Da trocknete sie ihr Gesicht ab und lächelte wieder.
Die Kröte hüpfte lautlos ins Moos, als Lätizia sich erhob.
15
Am Nachmittag vor Crammons und Christians Abreise wütete ein schweres Gewitter. Beide gingen im oberen Korridor des Schlosses auf und ab und sprachen über ihre Pläne. In einer Pause zwischen zwei Donnerschlägen sagte Crammon aufhorchend: »Was für ein sonderbares Geräusch? Hörst du's nicht?«
»Ja, ich höre,« entgegnete Christian, und sie folgten dem Laut.
Am Ende des Flurs lag der Spiegelsaal, dessen Tür bloß angelehnt war. Crammon öffnete den Spalt ein wenig weiter, spähte hinein und lachte gurrend. Auch Christian spähte hinein, über Crammons Kopf hinweg, auch er lachte.
Auf dem blankgewichsten Parkett des Saales, der von Möbeln nur einige an die Wand gelehnte Sessel und Polsterbänke enthielt, stand Lätizia mit blauen Pantöffelchen an den Füßen und einem blaßblauen Gewand bekleidet und spielte mit einem Ball. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck von Entrücktheit; die ununterbrochenen Blitze, die alle Spiegel gelb flammen machten, verliehen dem Spiel etwas Geisterhaftes.
Bald warf sie den Ball senkrecht in die Luft, bald an die Wand zwischen die Spiegel und fing ihn wieder, lächelnd. Bisweilen ließ sie ihn auf den Boden fallen und breitete, bis er wieder in Brusthöhe sprang, die Arme aus oder klatschte leise in die Hände. Sie drehte sich, beugte sich, warf den Kopf zurück, trat einen Schritt vor, flüsterte etwas, immer lächelnd, ganz hingegeben. Nachdem die beiden einige Zeit heimlich zugeschaut, zog Crammon Christian von der Tür fort, denn die Blitze machten ihn nervös. Er haßte Gewitter und hatte deshalb den Korridor zum Aufenthalt gewählt, wo man weniger davon sah. Nun zündete er seine kurze Pfeife an und fragte mürrisch: »Begreifst du diese Jungfrau?«
Christian blieb die Antwort schuldig. Etwas lockte ihn zurück an die Schwelle des Saals, in dem Lätizia einsam Ball spielte, aber da erinnerte er sich der Kröte auf ihrem weißen Kleid, und ein Widerwille regte sich in ihm.
16
Er liebte nicht die Erinnerung an unangenehme Vorfälle.
Er liebte es auch nicht, von Vergangenem zu sprechen, gleichviel, ob es angenehm war, davon zu sprechen oder nicht. Er kehrte nicht gern um auf einem Weg, den er ging, und wo Umkehr notwendig war, wurde er bald müde.
Er liebte nicht Menschen, die geistig angestrengte Züge hatten, oder solche, die von Büchern und Wissenschaft redeten. Er liebte nicht bleiche, hektische, krampfhafte Menschen und solche, die viel stritten und ihr Recht behaupteten. Fand er bei jemand eine der seinen entgegengesetzte Meinung, so lächelte er höflich, als ob er auf einmal derselben Meinung wäre. Es war ihm auch peinlich, wenn man ihn um seine Meinung geradezu befragte, und ehe er sich auf ein Wort verpflichtete, schreckte er nicht davor zurück, sich unwissend zu stellen.
War er in großen Städten gezwungen, durch die Proletarierviertel und Armenquartiere zu fahren oder zu reiten, so beschleunigte er die Geschwindigkeit, preßte die Lippen zusammen, sparte den Atem, und vor Unmut bekamen seine Augen einen grünlichen Glanz.
Eines Tages hatte ein bettelnder Krüppel auf der Straße seinen Mantel mit Fingern angefaßt. Als er nach Hause kam, schenkte er den Mantel seinem Diener. Schon als Kind hatte er sich geweigert, an Orten vorüberzugehen, wo zerlumpte Leute saßen, und wenn jemand von Elend und Not erzählte, hatte er das Zimmer verlassen, voll Abneigung gegen den Erzähler.
Er liebte nicht, von Funktionen des Leibes zu sprechen oder zu hören, von Schlaf, Hunger oder Durst. Der Anblick eines schlafenden Menschen war ihm widerwärtig. Er liebte nicht, Abschied zu nehmen oder solche, die lange fortgewesen waren, umständlich zu begrüßen.
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