Crammon trat wie ein Wächter an seine Seite.

»Eidolon!« rief plötzlich Eva.

Christian blickte zu ihr hinüber, schuldbewußt. Sie standen Aug in Auge. Die andern schwiegen betroffen.

»Er ist unter Brüdern soviel wert,« murmelte Christian, ohne den Blick von Eva zu lassen.

»Komm, Susanne,« wandte sich Eva zu ihrer Dienerin, und um ihren Mund zuckte es spöttisch und bitter, »komm. Er versteht zu fechten, und er versteht, Rosse zu erhandeln. Von Cortesia versteht er nichts. Gute Nacht, meine Herren.« Sie verbeugte sich und schlüpfte durch den grünen Türvorhang.

Bestürzt brach die Gesellschaft auf.

In ihrem Gemach angelangt, warf sich Eva auf einen Sessel und schlug erbittert die Hände vor das Gesicht. Susanne kauerte sich neben ihr auf den Boden und sah sie wartend und suchend an. Als eine Viertelstunde verflossen war, erhob sie sich, löste die Spangen aus Evas Haar und begann sie zu kämmen.

Eva ließ es geschehen. Sie gedachte des Meisters und seiner Lehre.

 

8

 

Die Lehre des Meisters war: Erziehe deinen Leib zur Furcht vor dem Geist; was du ihm über die Notdurft gewährst, macht dich zu seiner Sklavin. Sei nie die Verführte, verführe du, dann bleibt dir immer der Weg bekannt. Sei allen ein Geheimnis, sonst wirst du dir gemein; nur dem Werk gib dich hin, Leidenschaften der Sinne verwüsten das Herz. Was ein Mensch vom andern wirklich empfängt, ist niemals die Fülle der Stunde und der Seele, sondern ein Bodensatz, der erst spät und unmerkbar befruchtet wird.

Als sie im Alter von zwölf Jahren, von Gauklern beschwatzt und von ihrem Schicksal gerufen, die Heimat verließ, das weltentlegene fränkische Städtchen, war es noch weit bis zum Meister hin, aber der Weg war vorbestimmt.

Sie verlor sich nie. Sie glitt über Bedrängnisse und Erniedrigungen hinweg, wie die Gemse über Abgründe und Geröll. Wer sie unter den Mitgliedern der wandernden Truppe sah, hielt sie für ein geraubtes Kind von vornehmer Geburt. Dabei war sie die Tochter eines unbekannten Musikers, der Daniel Nothafft hieß, und einer Dienstmagd; mit dem Vater war sie nur durch ein Traumgefühl von Mitleid und Verehrung verbunden, die Mutter hatte sie niemals gesehen und deren mißklingenden Namen hatte sie abgeworfen.

In Zelten und Scheunen zu nächtigen, war sie gewohnt. In Orten am Meer hatte sie oft zwischen Klippen geschlafen, eingehüllt in eine Decke. Sie kannte den Nachthimmel, seine Wolken und seine Sterne. Sie war unter Tieren gelegen, Eseln und Hunden, im Stroh, und war auf der gebrechlichen, mit Menschen bepackten Karre bei Regen oder Schneegestöber über die Landstraßen gefahren. Es war eine Romantik, die im Widerspruch zum Zeitalter stand.

Sie hatte ihre theatralischen Kostüme nähen und täglich unter der Fuchtel des Oberhaupts der Gesellschaft ihre anstrengenden Übungen machen müssen. Aber sie lernte auch die fremde Sprache und kaufte auf Jahrmärkten heimlich die Bücher der Poeten, die in dieser Sprache gedichtet hatten. Heimlich las sie, manchmal auf herausgerissenen Seiten, die sich leicht verbergen ließen, Beranger, Musset, Victor Hugo und Verlaine.

Sie ging auf dem hohen Seil, das ohne Schutznetz über einen Dorfplatz von First zu First der Häuser gespannt war, und ging so sicher wie auf Breitern. Sie war die Partnerin eines dressierten Tanzbären und trat mit fünf Pudeln auf, die Purzelbäume machten. Sie turnte am Trapez, und ihre große Nummer war, sich in Karriere von einem Pferd aufs andre zu schwingen. Hierbei stellte der Leierkastendreher die Musik ein, um die Zuschauer zu verständigen, daß Ungewöhnliches geschah. Sie trug den Sammelteller am Strick entlang und nötigte manchen, durch einen Blick nur, in die Tasche zu greifen, der sich tückisch davonstehlen wollte.

Sie beklagte sich nicht nur nicht, sondern sie nahm die vielfachen Obliegenheiten aus eigenem Antrieb auf sich. Es war ihr bewußt, daß alles dies nur Schule war und Vorbereitung. Sie hatte die Gabe zu warten, in niedriger Sphäre sich innerlich schaffend zu gedulden.

In einigen Dörfern und kleinen Städten an der Rhone geschah es, daß sie unter dem Publikum häufig einen Mann bemerkte, der sich an zwei Krücken mühselig fortschleppte. Er folgte der Truppe von Ort zu Ort, und da seine ganze Aufmerksamkeit jedesmal bloß auf Eva gerichtet war, litt es keinen Zweifel, daß er es um ihretwillen tat.

Es war in der Nähe von Lyon, als sie, nach zweijährigen Wanderzügen, am Typhus erkrankte. Ihre Leute mußten sie ins Hospital bringen, sie konnten nicht warten, der Führer wollte nach gemessener Zeit zurückkehren und sie holen. Als er kam, war sie erst im Beginn der Genesung; plötzlich tauchte neben ihrem Bett der Mann mit den Krücken auf.