Er winkte den Gauklerchef beiseite; man sah an den Mienen, daß es sich bei dem Gespräch um Geld handelte. Aus dem Händedruck ihres bisherigen Herrn spürte Eva, daß sie ihn zum letzten Male sah.

 

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Lukas Anselm Rappard hieß der mit den Krücken. Er wurde Evas Retter und Erwecker; er lehrte sie ihre Kunst, er nahm sie in seine Obhut, und diese Obhut war von tyrannischer Art. Er gab sie erst wieder frei, als sie geworden war, wozu er sie hatte formen wollen.

Seit langem hatte er sich in Toledo zur Ruhe gesetzt, weil drei oder vier Gemälde dort waren, denen nah zu sein er die Weltabgeschiedenheit nicht scheute. Dann auch, weil die spanische Sonne ihn am meisten durchwärmte, und weil das Volk ihm gefiel.

Ungeachtet seines Gebrechens reiste er alljährlich nach Norden an die See. Er reiste wie die Altvordern, langsam von Ort zu Ort. Seine Schwester Susanne war seine stete Begleiterin.

Auf der Rückkehr war er diesmal zufällig von Evas Auftreten Zeuge geworden. Die dörflichen Jahrmärkte dieser Gegend hatten ihn schon oft verlockt. Da fand er unversehens, was ihn reizte, ein Werk zu schaffen. Es war ein Bildhauergelüst; die Form schwebte ihm vor, der Stoff war gegeben; der Anblick des Lebens entzündete Ideen, die zu gestalten er bereits verzichtet hatte.

Anfangs nannte er es eine Laune; als er sich in die Aufgabe versenkt hatte, wurde es zur Leidenschaft eines Pygmalion.

Er mochte vierzig Jahre zählen oder etwas mehr. Sein bartloses Gesicht war derbknochig, bäurisch-brutal. Je genauer man es aber betrachtete, je geistiger erschien es. Die grüngrauen Augen, tief in starken Höhlen liegend, hatten eine Blickgewalt, die überraschte, ja erschreckte.

Der merkwürdige Mann hatte eine merkwürdige Herkunft und ein merkwürdiges Schicksal. Sein Vater war ein holländischer Sänger gewesen, seine Mutter eine Dalmatinerin; sie waren beide nach Kurland verschlagen worden und während einer Epidemie fast zu gleicher Zeit gestorben. Die Geschwister waren schon als Kinder in die Ballettschule des Rigaer Theaters gekommen. Lukas Anselm gab zu großen Hoffnungen Anlaß. Durch eine unvergleichliche Elastizität und Leichtigkeit stellte er alles in den Schatten, was man bisher an jungen Tänzern gesehen hatte. Mit siebzehn Jahren entfesselte er das Publikum der Mailänder Skala durch seine Wirbel und Sprünge zu einer selten gehörten Beifallsraserei. Seine Wirkung erschien unzeitgemäß, verspätet oder verfrüht. Seine ganze Person hatte etwas Befremdendes, Überpflanztes, und bald wurde er auch an sich irre oder an den Elementen, die ihn trugen. Mit zwanzig Jahren wurde er von einer krankhaften Schwermut erfaßt.

Da begab es sich, als er in Petersburg gastierte, daß sich eine junge und jungverheiratete Dame vom Hof in ihn verliebte. Sie bewog ihn dazu, sie eines Nachts in ihrer Villa außerhalb der Stadt zu besuchen. Jedoch ihr Gatte war hiervon benachrichtigt worden; er schützte eine Reise vor, um die Frau in Sicherheit zu wiegen, drang mit mehreren Dienern in ihr Schlafgemach, riß den Liebhaber von ihrer Seite, ließ ihn von seinen Leuten blutig peitschen, sodann binden und nackt in den Schnee hinaustragen. Hier, im Schnee, bei strenger Kälte, mußte der Unglückliche bis zum Morgen, sechs Stunden lang, liegen.

Gefährliche Krankheit und unheilbare Lähmung waren die Folgen der Gewalttat. Susanne pflegte ihn und verließ ihn nicht eine Stunde. Sie hatte ihn stets bewundert und geliebt, jetzt vergötterte sie ihn. Ein kleines Vermögen hatte er bereits erworben, es vermehrte sich durch eine Erbschaft von mütterlicher Seite. So war er in den Stand gesetzt, unabhängig zu leben.

Ein neuer Mensch wuchs in ihm. Die Krüppelhaftigkeit verlieh seinem Gehirn jene Schwungkraft, die vordem sein Körper besessen hatte. Auf wunderlichem Weg durchmaß er die Weite modernen Daseins von einem Endpunkt bis zum andern und spannte, über Schmerz, Enttäuschung und Verzicht, den Bogen vom Sinnlichen zum Geistigen.