In seiner Verwandlung vom Tänzer zum Krüppel schien ihm eine tiefe Bedeutung zu liegen; er forschte nach der Idee und nach dem Gesetz, und das schroffe Widerspiel von äußerer Ruhe und innerer Bewegung, von innerer Ruhe und äußerer Bewegung dünkte ihm wichtig zur Erklärung der Menschheit und der Zeit.
Mit zweiundzwanzig Jahren lernte er Lateinisch, Griechisch und Sanskrit. Er trieb die Studien eines Schülers und hörte Vorlesungen an deutschen Universitäten. Der fremdartige Student, der mühsam an Stöcken humpelte, bildete häufig den Gegenstand neugieriger Nachfrage. Als er dreißig alt war, reiste er in Susannes Begleitung nach Indien und lebte vier Jahre lang in Delhi und in Benares. Er verkehrte mit gelehrten Brahmanen und wurde von ihnen in Mysterien eingeweiht, die kein Europäer vor ihm erfahren. Eines Tages stand er einem sagenhaften tibetanischen Lama gegenüber, der achtzig Jahre lang in einer Höhle im Gebirg gelebt und den die ewige Finsternis blind, die ewige Einsamkeit zum Heiligen gemacht hatte. Der Anblick des Hundertjährigen erschütterte ihn, zum erstenmal in seinem Leben, bis zu Tränen. Er verstand nun Heiligkeit und glaubte an Heiligkeit. Und dieser Heilige tanzte. Beim Sonnenaufgang tanzte er, die blinden Augen dem Gestirn zukehrend.
Er sah die religiösen Feste in den Tempelsiedlungen am Ganges und fühlte die Nichtigkeit des Lebens und die Gleichgültigkeit des Todes, wenn die Pestleichen zu Hunderten und aber Hunderten den Fluß hinunterschwammen. Er ließ sich in die Urwälder und die Dschungeln tragen und sah überall Tod und Leben so ineinander verstrickt, daß eines Art und Züge des andern annahm, Verwesung die der Geburt, Fäulnis die der Zeugung. Man erzählte ihm von der Marmorstadt eines Rajahs, in der nur Tänzerinnen lebten, die von Fakiren unterrichtet wurden; wenn die Zeit kam, wo sie verblühten und ihre Gelenke die Kraft einbüßten, wurden sie getötet. Sie hatten das Gelübde der Keuschheit abgelegt, und wenn sie es brachen, wurden sie getötet. Er ging hin, doch erhielt er keinen Einlaß. In der Nacht sah er Feuer auf den Dächern und hörte die Gesänge der jungfräulichen Tänzerinnen. Bisweilen glaubte er auch einen Todesschrei zu hören.
Diese Nacht mit den Feuern und den Gesängen, den geahnten Tänzen und dem ungewissen Schrei speicherte neue Energien in ihm auf.
10
Er brachte Eva nach Toledo. Er hatte dort ein Haus gemietet, in welchem, wie es hieß, einst der Maler Greco gewohnt hatte.
Das Gebäude war ein grauer Würfel, im Innern ziemlich öde. Es lebten Katzen darin, Eulen, Fledermäuse und Ratten.
Mehrere Räume waren angefüllt mit Büchern; die Bücher wurden Evas stumme Freunde in den Jahren, die nun kamen und in denen sie fast keinen andern Menschen sah als Rappard und Susanne.
In diesem Hause lernte sie die Einsamkeit kennen, die Arbeit und die völlige Hingebung an eine Idee.
Sie betrat es mit der Furcht vor ihm, der sie durch seinen Willen hergezwungen. Seine Sprache und sein Wesen schüchterten sie so ein, daß sie Angstvorstellungen hatte, wenn sie an ihn dachte. Sie zu beschwichtigen, war Susanne eifrig bemüht.
Susanne erzählte vom Bruder, abends und nachts, wenn Eva mit einem bis zur Verzweiflung erschöpften Körper dalag, vor Erschöpfung nicht schlafen konnte. Sie war nicht verweichlicht, das Leben bei der Truppe hatte sie an die härtesten Anstrengungen gewöhnt, aber dieser unaufhörliche Drill, diese eintönige Plage der ersten Monate, in der alles wüst und schmerzlich war, ohne Lockung, ohne Licht, ohne Begreifen fast, machte sie krank und ließ sie ihre Glieder hassen.
Susanne beschwor sie mit dumpfer Stimme; Susanne streichelte ihre Arme und Beine; Susanne trug sie ins Bett und las ihr vor. Und sie schilderte ihn, der in ihren Augen ein Zauberer war, ein ungekrönter König, an dessen Blick und Atemhauch sie hing und aus dessen Vergangenheit sie Szenen und Worte wiedergab, weitschweifig und wirr oft, zuweilen auch so packend und bildvoll, daß Eva das Glück der Fügung zu ahnen begann, welches ihn auf ihren Weg geführt.
Dann kam ein Tag, wo er zu ihr redete. »Glaubst du dich zur Tänzerin geboren?« – »Ich glaube es.« Und er sprach zu ihr über den Tanz. Das schwankende Gefühl wurde fest. Sie spürte den leichter und leichter werdenden Körper. Als er sie verließ, schaute sie mit Augen, in denen schon der Ehrgeiz flammte.
Er hatte sie gelehrt, mit aufgereckten Armen zu stehen, und kein Muskel durfte zittern; sich auf den Fußspitzen zu halten, daß der Scheitel einen hängenden spitzen Pfeil berührte; mit nackten Füßen bestimmte Figuren zwischen aufgespießten Nadeln zu gehen, und wenn jede Wendung den Gliedern eingefleischt war, mit verbundenen Augen die Gefahr zu meiden; sich um einen vertikal gespannten Strick zu wirbeln und ohne Hilfe der Arme auf hohen Stelzen zu schreiten.
Sie hatte vergessen müssen, wie sie bisher gegangen, geschritten, gelaufen, gestanden war, und sie mußte lernen, zu gehen, zu schreiten, zu laufen, zu stehen. Es mußte neu werden, wie er sagte; Glieder, Knöchel und Gelenke mußten sich zu neuen Funktionen entschließen, so wie ein Mensch, der im Straßenschmutz gelegen ist, neue Kleider anzieht. »Tanzen heißt Neusein,« sagte er, »in jedem Augenblick frisch aus Gottes und seiner Engel Hand.«
Er weihte sie ein in den Sinn und das Gesetz aller Bewegung, in die Struktur und den Rhythmus jeglicher Gebärde.
Er schuf die Gebärde mit ihr. Er dichtete um jede Gebärde ein Erlebnis.
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