Er zeigte ihr, was Flucht war, was Verfolgung, was Abschied, was Begrüßung; was Erwartung, was Triumph; was Freude, was Angst. Es gab keine Regung eines Fingers, an der nicht der ganze Körper teilzunehmen hatte; Spiel der Augen und der Mienen kam so wenig in Frage, daß man das Gesicht getrost verhüllen konnte, ohne daß der Ausdruck litt.
Er schälte alles aus dem Überflüssigen; er forderte den Extrakt.
»Kannst du trinken? So trinke.« Es war falsch. »Phrase; so hat der Mensch nicht getrunken, der noch nie einen Trinkenden gesehen hat.«
»Kannst du beten? Kannst du pflücken, die Sense schwingen, Körner sammeln, einen Ring darreichen, einen Schleier binden? Gib das Bild davon! Stell es dar!« Sie konnte es nicht. Er lehrte es sie.
Wenn sie sich in die Wirklichkeit verirrte, schäumte er vor Zorn. »Die Wirklichkeit ist ein Vieh!« schrie er und schleuderte eine seiner Krücken an die Wand, »die Wirklichkeit ist ein Mörder!«
Er erklärte ihr an Statuen und vor den Gemälden großer Künstler die wesentliche und geadelte Linie und wie das Gedachte und Erbaute wieder mit der Natur und ihrer Unmittelbarkeit in Harmonie gebracht war.
Er sprach über die Musik als Helferin. »Du brauchst die Melodie nicht, kaum den Ton. Wichtig ist allein die geteilte Zeit, das hörbar abgesetzte Maß, das die heftige, wilde, leidenschaftliche oder die sanfte, getragene, liebliche Bewegung leitet und eindämmt. Hierzu genügt ein Tamburin oder eine Wasserpfeife. Alles übrige ist Schwindel und Trübung. Hüte dich vor Poesie, die nicht aus deiner Leistung kommt.«
Er ging des Nachts mit ihr in Schenken und Tanzlokale, wo Mädchen aus dem Volk ihre kunstlosen und aufgeregten Tänze vorführten. Er enthüllte den Kern davon und ließ sie einen Bolero, einen Fandango, eine Tarantella tanzen, die nun wie geschliffene Edelsteine wirkten.
Er rekonstruierte die alten Waffentänze für sie, die Pyrrhiche und die Karpeia; den Tanz der Musen auf dem Helikon um den Altar des Zeus; den Tanz der Artemis mit ihren Gespielinnen; den Geranostanz von Delos, welcher den Weg des Theseus durch das Labyrinth nachahmte; den Tanz, den die Mädchen von Karyai zu Ehren der Artemis von Karyai tanzten, wobei sie einen kurzen Chiton und ein korbartiges Weidengeflecht auf dem Haupte trugen; den Keltertanz, der durch die Schale des Hieron überliefert ist und bei welchem alle bei der Weinlese und beim Keltern vorkommenden Handlungen dargestellt werden. Er zeigte ihr Abbildungen der Francoisvase, der geometrischen Vase vom Dipylon, vieler Reliefs und Terrakotten und ließ sie die Figuren studieren, die eine hinreißende Anmut und einen unvergleichlichen Schwung der Bewegung hatten. Er verschaffte ihr die Musik dazu, die er mit Susannes Hilfe aus alten Notenschriften auszog und den Tänzen anpaßte.
Von da an führte er sie höher; veranlaßte sie, selbst zu erfinden, selbst zu fühlen und das Gefühl zu formen; löste den hypnotisch aufs Technische oder nur Schöne gebannten Blick, machte ihre Sinne frei, ließ sie das Feld übersehen, auf dem sie wirken sollte, den tauben, blinden Schwarm und Haufen; flößte ihr die Liebe zu den unsterblichen Werken ein und wappnete ihr Herz gegen die niedrige Verführung, gegen das Spiel ohne höchsten Einsatz, das Tun ohne Maß, das Sein ohne Gewicht.
Erst als sie von ihm ging, faßte sie ihn ganz.
Er gab ihr Susanne mit, als er sie reif fand, sich der Welt zu zeigen, außerdem Empfehlungen, die den Anfangsweg ebneten. Er wollte einsam leben. Für die Pflege, deren er bedurfte, hatte Susanne einen jungen Kastilier abgerichtet. Ob er in Toledo bleiben oder einen andern Wohnsitz wählen würde, sagte er nicht. Seit sie ihn verlassen, hatte weder Eva noch Susanne von ihm gehört; Briefe und Nachrichten hatte er sich verbeten.
11
Susanne saß oft in der Nacht in einem finstern Winkel und nannte aus tiefem Brüten heraus seinen Namen. Ihre Gedanken drehten sich um die Wiedervereinigung mit ihm. Der Dienst bei Eva war bloß eine gewaltsame Unterbrechung des Lebens an seiner Seite.
Sie liebte Eva; aber sie liebte sie als Lukas Anselms Werk und Werkzeug. Wenn Eva Ruhm gewann, so war es für Lukas Anselm; wenn sie Schätze sammelte, es war für Lukas Anselm; wenn sie mächtig wurde, für Lukas Anselm wurde sie's. Die sich Eva nahten und sich ihr unterwarfen, waren Kreaturen Lukas Anselms, seine Hörige und Sendlinge.
Ach, dachte sie, als sie nach dem Auftritt mit Christian Wahnschaffe in Evas Gemach ihr zu Füßen kauerte, wie so oft, und ihre Knie umklammert hielt, ach, er hat ihr eine unwiderstehliche Seele eingehaucht, er hat sie schön und strahlend gemacht.
Aber es war auch eine abergläubische Befürchtung in ihr. Insgeheim zitterte sie davor, daß diese unwiderstehliche Seele plötzlich einmal aus Evas Körper entweichen, die strahlende Schönheit schwinden würde, und daß dann nichts übrigblieb als eine leere, tote Hülle. Geschah es, dann wußte sie, daß Lukas Anselm nicht mehr war.
Darum freute sie sich, wenn Überschwang und Ausgelassenheit, Glanz und Tumult in Evas Leben herrschten, und wurde niedergeschlagen und von schlimmen Ahnungen geplagt, wenn die Schöne sich zurückzog und still und allein blieb. So lang Eva tanzte, so lang Eva liebte, so lang sie Feste feierte und sich schmückte, brauchte Susanne nicht um den Bruder zu bangen, und darum saß sie da und blies in die Flamme, aus welcher Lukas Anselm zu ihr redete.
»Hast du den Engländer gewählt, so mußt du deswegen dem Deutschen nicht den Laufpaß geben,« sprach sie. »Nimm den einen, und den andern kannst du noch schmachten lassen. Man weiß nicht, wie die Dinge sich verändern. Es sind viele da; sie steigen, sie fallen. Mit Cardillac gehts auch bergab; man munkelt allerlei.«
»Eidolon,« flüsterte Eva hinter den Händen, die ihr Gesicht verbargen.
»Wie denn?« sagte Susanne ärgerlich, »erst höhnst du ihn, dann rufst du ihn. Wer wird daraus klug?«
Mit einem Ruck schnellte Eva empor. »Du sollst mir nicht von ihm sprechen, du sollst ihn mir nicht preisen, Kupplerin,« rief sie mit glühenden Wangen, und der spöttisch leichte Ton, in dem sie immer mit Susanne redete, wurde drohend.
»Golpes para besos,« murmelte Susanne spanisch, »Schläge für Küsse.« Sie stand auf, um Evas Haar weiterzukämmen und für die Nacht zu flechten.
Am andern Tag kam Crammon.
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