Sie waren kaum über die Schwelle gelangt, als Cardillac gepreßten Tones flüsterte: »Ich muß zweitausend Franken haben, sonst bin ich verloren. Strecken Sie mir zweitausend Franken vor, Monsieur, retten Sie mich, ich habe Frau und Kind.«
Frau und Kind, dachte Christian erstaunt, wie geht das zu, kein Mensch hat davon gewußt. Und weshalb wendet er sich gerade an mich? Da ist Wiguniewski, da ist d'Autichamps, da sind viele, die er besser kennt.
»Ich muß in einer halben Stunde am Ostbahnhof sein,« hörte er Cardillac sagen. Er griff nach seiner Brieftasche.
Frau und Kind, fuhr es ihm durch den Kopf, und der heftige Widerwille gegen Bettler erwachte in ihm; was hab ich damit zu schaffen? Er nahm die Geldnoten heraus. Zweitausend Franken, dachte er, und erinnerte sich der Millionensummen, die man gewohnt war, in Verbindung mit dem Namen des Mannes zu nennen, der bettelnd vor ihm stand.
»Ich danke Ihnen,« vernahm er Cardillacs Stimme wie durch eine Wand.
Mit gesenktem Kopf schritt Cardillac an ihm vorüber; im andern Zimmer hatten sich indessen zwei fremde Männer eingefunden. In der offenen Doppeltür hinter ihnen standen die Diener mit verlegenen Gesichtern. Es waren Polizeibeamte. Sie suchten Cardillac, sie waren ihm bis ins Haus gefolgt.
Cardillac, sie erblickend und was sie hergeführt erratend, prallte gurgelnd zurück. Seine rechte Hand verschwand in der Rocktasche; mit einem Sprung waren die beiden Leute neben ihm und hatten seine Arme gepackt. Es gab ein kurzes, lautloses Ringen; plötzlich war er gefesselt.
Eva hatte sich erhoben. Ihre Gäste scharten sich um sie. Sie lehnte sich an Susannes Schulter und drehte den Kopf zur Seite, als graue ihr ein wenig. Aber sie lächelte noch, wenngleich mit entfärbten Wangen.
»Er ist grandios, auch in diesem Moment grandios,« sagte Imhof leise, zu Crammon gewendet.
Christian starrte auf Cardillacs mächtigen Rücken; wie der Rücken eines Ochsen, der zur Schlachtbank gezogen wird, mußte er denken. Die zwei Männer, in deren Mitte der Gefesselte ging, hatten fettglänzende Nacken und darüber am Hinterkopf schlecht abgeschnittene, unsaubere Haare.
Ein übler Geschmack im Gaumen quälte Christian. Er rief einen der Diener und verlangte ein Glas Sekt.
Cardillacs Worte: »Ich habe Frau und Kind« wollten ihm nicht aus dem Sinn. Im Gegenteil, sie klangen immer greller, und da fragte auf einmal eine zweite Stimme, neugierig, einfältig: wie mögen sie aussehen, diese Frau, dieses Kind? Wo mögen sie sein? Was wird mit ihnen geschehen?
Es war störend und peinigend wie Zahnschmerz.
13
In der Grafschaft Devonshire, südlich von Exeter, hatte Sir Denis Lay seinen Landsitz. Das Herrenhaus lag inmitten eines Parks mit uralten Bäumen, tiefgrünen Rasenplätzen, kleinen Seen, in deren Spiegel der Himmel ruhte, und Blumenbeeten, denen das mildeste Klima der Erde alle Kraft entlockte.
»Wir sind in der Nähe des Golfstroms,« sagte Crammon erklärend zu Eva und Christian, die gleich ihm Sir Denis Gäste waren, und er machte ein Gesicht, als ob er nur um der Freunde willen den Golfstrom eigenhändig aus dem Busen von Mexiko an die englische Küste geleitet hätte.
Mit einer Miene schwesterlicher Zärtlichkeit ging Eva stundenlang zwischen den eben erblühten Veilchen umher. Weite Flächen strahlten blau; es war im März.
Mehrere junge Lords und Ladies wurden erwartet, aber erst am dritten Tag.
Auf einem Spaziergang waren die vier vom Regen überrascht worden und kehrten naß zurück. Als sie sich umgekleidet hatten, trafen sie im Bibliotheksraum wieder zusammen und nahmen hier den Tee. Es war eine große Halle, deren Wände mit dunkler Eiche getäfelt waren; mächtige Balken trugen die Decke. In halber Höhe lief eine Galerie mit geschnitztem Geländer, und an einer Schmalwand sah man zwischen den Bogenfenstern die vergoldeten Pfeifen einer Orgel.
Es dämmerte, und der Regen rauschte. Eva hatte ein Album mit Kopien Holbeinscher Bilder vor sich; langsam schlug sie Blatt um Blatt um. Christian und Crammon spielten Schach. Sir Denis schaute ihnen eine Weile zu, dann setzte er sich an die Orgel und begann zu spielen.
Eva ließ die Blätter ruhen und lauschte.
»Die Partie ist verloren,« sagte Christian, stand auf und ging die Treppen zur Galerie empor. Er lehnte sich über die Brüstung und blickte hinunter. Auf einem Vorbau des Geländers lag, wie ein Ei in einem Becher, ein Erdglobus in metallenem Gestell.
»Was ist es, was spielen Sie?« fragte Eva, als Sir Denis eine Pause machte.
Sir Denis wandte sich um. »Ich habe eine Stelle aus dem Hohen Lied zu komponieren versucht,« antwortete er. Er begann wieder und sang mit wohllautender Stimme: »Erhebe dich, du Schöne, und komm mit mir, der Winter ist vorüber.«
Der Klang der Orgel erregte in Christian ein Gefühl von Haß. Sein Auge umfaßte die Gestalt Evas; in einem meergrünen Kleid, schlank, fern und fremd, saß sie dort drunten, und wie er sie anschaute, vermischte sich mit dem Haß gegen die Musik ein andres Gefühl, ein wehes, lastvolles, und sein Herz fing heftig an zu schlagen.
»Erhebe dich, du Schöne, und komm mit mir,« sang Sir Denis. Crammon brummte die Melodie leise mit.
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