Es war halb fünf Uhr morgens, als der Wagen vor einer Baracke am Stromufer hielt. In den Fenstern war Licht.

Crammon begriff noch immer nicht. Er hatte schon den rostigen Glockenzug in der Hand, da fragte sein ratloser Blick zum letztenmal. Christian schenkte dem Zaudernden keine Beachtung. Ein abgehärmt aussehendes Weib erschien in der Tür. Crammon mußte sprechen, und widerwillig sagte er, sie kämen, um sich nach dem Befinden der Tochter zu erkundigen. Das Weib glaubte, ihre Tochter habe in Heimlichkeit vornehme Herren zu Freunden; sie trat betroffen zurück und ließ die beiden ein.

 

4

 

Was Crammon sah und was Christian sah, war nicht dasselbe.

Crammon sah eine düster erleuchtete Stube mit alten Spinden, die verräuchert waren, mit einer Bettstatt, in deren rotkariertem groben Linnen das Mädchen Katharina lag, mit einer Wiege, in der ein wimmernder Säugling lag, mit aufgehängter Wäsche am Ofen, mit einem Tisch, an dem der Schiffer saß und eine Mehlsuppe löffelte, mit einer Bank, auf welcher ein junger Bursche schlief, und mit vielen häßlichen, schmutzigen Gegenständen außerdem.

Für Christian war es wie ein Traum vom Fallen. Auch er sah den Schiffer, das abgehärmte Weib, den schlafenden Burschen, den Säugling in der Wiege und das Mädchen, dessen verglaste Augen und verkrampfte Züge ihn übrigens sofort an den Beweggrund seines Hierseins gemahnten; aber er sah es, wie man Bilder sieht, während man in einen Schacht hinuntergleitet; Bilder, die beständig wiederkehrten und von andern abgelöst wurden, die sich von oben her dazwischenschoben.

So sah er Eva Sorel, die einem ihrer Äffchen eine Walnuß reichte.

Jetzt erhob sich der Schiffer und nahm seine Kappe ab. Und Christian sah Sir Denis Lay und den Grafen von Westmoreland, die einander begrüßten und sich die weißbehandschuhten Hände reichten; ein nichtssagender Vorgang, der aber etwas Grelles und Schneidendes hatte.

Jetzt erwachte der Bursche auf der Bank, rekelte sich, gab sich einen Ruck und starrte finster erstaunt auf die Fremden, indes die von ihrem abscheulichen Erlebnis hingeworfene Katharina den Kopf herüberwandte und erschrocken das Deckbett bis an das Kinn zog. Da sah Christian das anmutige Bild der im leeren, von Blitzen durchflammten Saal ballspielenden Lätizia wieder, und jedes Ding, auf das sein Auge fiel, hatte Bezug auf ein andres aus der andern Welt.

Die Neugier, die ihn hergetrieben, nährte noch das lüsterne Lächeln auf seinen Lippen. Aber sein Blick suchte Hilfe bei Crammon, und er empfand das Unschickliche seines stummen, dummen Dastehens, das Zwecklose und Törichte des nächtlichen Ausflugs überhaupt. Kaum erträglich erschien ihm der Aufenthalt in dem niedrigen Raum, der Geruch mangelhaft gepflegter Körper und jahrelang getragener Kleider.

Bis zum letzten Augenblick hatte er sich vorgestellt, daß er mit dem Mädchen sprechen würde. Aber gerade dies erwies sich als unausführbar. Er getraute sich nicht einmal, den Kopf in die Richtung zu wenden, wo sie lag. Dabei war ihm beständig gegenwärtig, wie er sie dort draußen gesehen hatte, wegtaumelnd von den Biertischen, mit aufgelöstem Haar und zerrissener Bluse.

Wenn er die Worte überlegte, die er ihr sagen könnte, dünkte ihn jedes einzelne besonders überflüssig und gemein.

Der Schiffer sah ihn an, das Weib sah ihn an, der Bursche sah ihn an, letzterer mit tückisch verkniffenen Augen, als bereite er sich zu handgreiflicher Beleidigung vor, und nun trat auch noch ein alter Mann aus einem Verschlag hervor, wo Kartoffeln aufgehäuft waren, und heftete trübe Blicke auf ihn. In der Bedrängnis, in die ihn dies peinigende Anschauen versetzte, machte er ein paar Schritte gegen das Bett Katharinas. Die hatte ihr Gesicht zur Wand gekehrt, lag regungslos da. In einem Anfall zorniger Verzweiflung griff er in die Taschen, erst in die linke, dann in die rechte, fand nichts, wußte auch nicht recht, was er suchte, spürte dabei den Diamantring am Finger, der ein Geschenk seiner Mutter war, zog ihn hastig herunter und warf ihn auf das Bett, mitten zwischen die Hände des Mädchens, wie einer, der sich loskaufen will.

Katharina bewegte den Kopf, erblickte den herrlichen Ring, und Verachtung und Bestürzung, Lust und Furcht wechselten in ihren Zügen; sie hob den Blick, senkte ihn wieder und wurde bleich. Ihr Gesicht war nicht schön; es war durch die Empfindungen entstellt, deren Beute sie in den kürzlich verflossenen Stunden gewesen war. Aus einem Grund, der ihm selbst rätselhaft war, mußte Christian plötzlich lachen, heiter und herzlich lachen; zugleich drehte er sich gebieterisch nach Crammon um und forderte ihn durch eine Gebärde zum Gehen auf.

Crammon hatte indes die Peinlichkeit der Situation auf seine praktische Weise zu lösen beschlossen. Er richtete ein paar Worte an den Schiffer, der in seinem kölnischen Platt antwortete, dann nahm er aus der Brieftasche zwei Scheine und legte sie auf den Tisch. Der Schiffer betrachtete die Scheine, die Hände des Weibes langten danach, Crammon schritt zur Tür.

Fünf Minuten, nachdem sie das Haus betreten hatten, verließen sie es wieder, und zwar schnell, mit Schritten von Flüchtenden.

Während sie im Wagen über das holperige Pflaster fuhren, sagte Crammon mürrisch: »Du bist deinem Zahlmeister hundert Mark schuldig. Das andre, was nicht Bargeld ist, will ich verschmerzen. Oder kannst du mir den verlorenen Schlaf bezahlen?«

»Ich verehre dir den chinesischen Apfel aus ambrafarbenem Elfenbein dafür, der dich bei dem Händler in Antwerpen so begeistert hat,« erwiderte Christian.

»Tu das, mein Sohn,« sagte Crammon, »aber spute dich, sonst bekomme ich aus Wut über diese Geschichte ein Gallenfieber.«

Aber als er am Mittag ausgeschlafen hatte, betrachtete Crammon das Vorgefallene mit der philosophischen Milde, deren er unter Umständen fähig war, und nachdem sie köstlich gefrühstückt hatten, sagte er, indem er die kleine Pfeife stopfte: »Solche Extravaganzen im Stile Harun al Raschids führen zu nichts, mein Lieber. Diese dunklen Tiefen kannst du nicht ergründen. Wozu in unbekanntem Revier jagen, da das bekannte noch so viele Reize hat? Sieh deinen ergebenen Diener an, der vor dir sitzt, eine wahre Fundgrube von Rätseln und Geheimnissen. Deshalb sagt auch der Dichter so treffend: Was wissen wir von Sternen, Wasser und Wind? Was von den Toten, die unter der Erde sind? Was von Vater und Mutter, Weib und Kind? Das Herz ist gefräßig, das Auge blind.«

Christian lächelte kühl. Verse, dachte er geringschätzig, Verse ...

 

5

 

Als sie in dem neuen Prachtbau am Schwanheimer Forst eintrafen, fanden sie dortselbst große Unruhe und eine Menge Gäste. Lätizia war noch nicht gekommen, Felix Imhof wurde stündlich erwartet, Lieferanten und Postboten kamen und gingen ununterbrochen, es war ein Treiben wie in einem Bienenstock.

Frau Richberta begrüßte Christian mit gehaltener Würde, obwohl die Freude ihren Augen einen Phosphorglanz verlieh. Judith sah angegriffen aus und nahm von dem zurückgekehrten Bruder wenig Notiz.