Nur einmal, am Abend, stürzte sie ihm plötzlich in die Arme und gab einen sonderbar wilden Laut von sich, der eine sinnliche Ungeduld, verborgene Begierden, deren Beute das kalte und ehrgeizige Mädchen allzu lange gewesen war, verräterisch kundgab.

Unangenehm berührt, machte sich Christian von ihr los.

Er ging mit Crammon auf die Jagd, oder sie fuhren in die benachbarten Städte. Nirgends hielt es Christian, er wollte immer weiter, immer woanders hin. Auch sein Blick wurde unstet; wenn sie durch die Straßen schritten, schaute er verstohlen in die Fenster von Wohnungen und in die Flure von Häusern.

Eines Nachts saßen sie in einem Weinkeller zu Mainz und tranken Bernkastler Doktor, dreißigjährig und von seltener Blume. Crammon, Kenner durch und durch, füllte mit verliebter Miene sein Glas stets aufs neue. »Sublim,« sagte er und steckte ein dickbestrichenes Kaviarbrot in den Mund; »sublim. Das sind die Wirklichkeiten des Lebens. Das sind meine Altäre, meine Erbauungsschriften, meine Reliquien, meine stillen Andachten. Die unsterbliche Seele ruht, und hinter mir im Staub liegt das Erhabene.«

»Sprich wie ein ordentlicher Mensch,« sagte Christian.

Aber der Weinselige fuhr unbeirrt fort: »Ich habe genossen das irdische Glück. Das hab ich, Bruderherz, das hab ich, in Hütten und Palästen, im Süden und im Norden, zu Wasser und zu Land. Nur die letzte Erfüllung ward mir nicht. O Ariel, warum hast du mich verstoßen?«

Er seufzte und zog ein kleines, kostbar gebundenes Album aus der Brusttasche, das er immer bei sich trug. Es enthielt zwölf schöne Photographien der Tänzerin Eva Sorel. »Sie ist wie ein Knabe,« sagte er, dem Anblick der Bildnisse hingegeben, »ein schlanker, spröder, schneller Knabe. Sie steht an der Grenze des Geschlechts, die Zweideutige, Zweigestaltige, wo Männer verrückt werden, wenn sie an Fleisch und Blut nur denken. Du schlüpfrige Eidechse, du liebesnüchterne Amazone! Graut dir nicht auch ein wenig, Christian, rieselts dir nicht kühl in den Adern, wenn du sie in deinen Armen dir vorstellst, auf einem Bett mit ihr, Brust an Brust? Mir graut. Da ist etwas von Widernatur darin und von Schändung. Wem sie die Lippen reicht, der ist verloren. Das haben wir ja erlebt.«

Christian verspürte auf einmal Sehnsucht, in einem Wald zu sein, in einem stillen, finstern Wald. Es graute ihm, aber in andrer Weise, als Crammon meinte. Er sah ihn an und hatte Mühe, zu begreifen, daß da ein vertrauter Mensch vor ihm saß, dessen Antlitz und Gestalt er schon tausendmal ohne nachzudenken gesehen hatte.

»Alle sind Dirnen, mein süßer Ariel,« begann Crammon wieder, das letzte Bild betrachtend, auf dem Eva mit dem Traubenkorb tanzend dargestellt war, »alle, alle, alle sind Dirnen, unzüchtige und wilde oder furchtsame und geheime, nur du bist rein; Vestalin du, Halbgespenstchen; Spinnenwesen, das an seinem selbstgesponnenen Faden durch die Lüfte steuert. Laß uns trinken, Freund, wir sind aus Dreck gemacht und müssen Feuer als Medizin nehmen.«

Er trank das Glas leer, stützte den Kopf in die Hand und verfiel in melancholisches Sinnen.

Plötzlich sagte Christian: »Ich glaube, Bernhard, wir müssen uns trennen.«

Crammon starrte ihn an, wie wenn er nicht recht gehört hätte.

»Ich glaube, wir müssen uns trennen,« wiederholte Christian mit leiser Stimme und einem unbestimmten Lächeln; »wir sind nicht mehr für einander, glaube ich. Geh du deiner Wege, ich will meine gehen.«

Crammons Gesicht wurde vor Zorn und Erstaunen dunkelrot. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und knirschte: »Was fällt dir ein? Gibst mir den Laufpaß wie einem Dienstboten? Mir?« Er erhob sich, nahm Hut und Mantel und ging.

Christian blieb noch lange in Gedanken sitzen, das unbestimmte Lächeln auf den Lippen.

Am folgenden Tag beim Erwachen, als Christian nach seinem Diener läutete, trat an Stelle des Dieners Crammon mit einem tiefen Bückling ins Zimmer. Über dem linken Arm trug er die gebürsteten Kleider, in der rechten Hand die gereinigten Schuhe. Im Ton des Dieners wünschte er guten Morgen, legte dann die Kleider auf einen Stuhl, stellte die Stiefel auf den Boden, fragte, ob das Bad gerichtet werden solle und was der gnädige Herr zum Frühstück befehle, alles mit vollkommenem Ernst, mit einem traurigen Ernst beinahe und einer Anmut innerhalb der gespielten Rolle, die Wohlgefallen erweckte.

Christian mußte lachen. Er streckte Crammon die Hand entgegen. Das Spiel fortsetzend, trat Crammon einen Schritt zurück und verbeugte sich verlegen. Dann zog er die Vorhänge auf, öffnete ein Fenster, brachte das frische Hemd, die Strümpfe, die Krawatte, lispelte noch einige Fragen und ging, um nach einer Weile mit dem Frühstückstablett wiederzukehren. Nachdem er den Tisch gedeckt und Teller und Tassen geordnet hatte, stand er mit geschlossenen Hacken und vorgeneigtem Haupt; endlich, als Christian abermals lachte, veränderte sich der Ausdruck seiner Züge, und er fragte, halb spöttisch, halb trotzig: »Willst du noch immer behaupten, daß du mich entbehren kannst?«

»Mit dir kann man nicht rechten, Bernhard,« antwortete Christian.

»Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, von der Tafel aufzustehen, wenn erst die Suppe serviert ist,« sagte Crammon; »kommt meine Zeit, so troll ich mich von selber. Fortschicken lass ich mich nicht.«

»Bleib, Bernhard,« versetzte Christian beschämt, »bleib nur bei mir.« Und sie reichten sich die Hände.

Es wollte aber Christian scheinen, daß aus dem Freund nun wirklich ein Diener geworden sei, ein Mensch jedenfalls, gegen den er nicht mehr verpflichtet war, sich aufzuschließen, an den ihn kein inneres Band mehr knüpfte, ein Begleiter nur.

Von da an herrschten Scherz und oberflächliche Tändelei in ihren Gesprächen ausschließlich, und Crammon merkte nicht oder übersah es mit Fleiß, daß seine Beziehung zu Christian verwandelt war.

 

6

 

Die Ankunft des Argentiniers verursachte Aufsehen unter den Gästen des Hauses Wahnschaffe.