Eine Frage drängte sich ihm auf die Lippen, ein zartes, heiteres Wort. Da vernahm er ihre Schritte, wandte sich um und erschrak. Er glaubte eine Doppelgängerin zu sehen.

Sie wunderte sich nicht, daß sie ihn hier traf. Sie wunderte sich selten. Sie setzte sich auf einen Stuhl und starrte leer vor sich hin.

Sie sprach über Imhof, der einen seiner Freunde im Hause eingeführt hatte, einen Juden. Sie äußerte sich mißbilligend über den Verkehr mit Juden im allgemeinen. Auch Wahnschaffe, sie nannte ihren Gatten stets so, sei derselben Meinung.

Sie mißbilligte Judiths Verlobung. »Auch Wahnschaffe ist im Grunde gegen diese Ehe,« sagte sie; »doch ein Vorwand, den Bewerber abzuweisen, bot sich schwer. Wenn Judith einmal will, – du weißt es ja, du kennst sie. Ich fürchte, ihr Hauptbestreben war dabei, ihrer Freundin Lätizia zuvorzukommen.«

Christian blickte überrascht empor. Frau Richberta beachtete es nicht und fuhr fort: »Imhof erscheint mir bei allen seinen guten Eigenschaften nicht verläßlich. Er ist ein Hazardeur, ein unruhiger Kopf, ein wetterwendischer Charakter. Von den zehn Millionen, die ihm sein Adoptivvater hinterlassen hat, sind schon fünf oder sechs verspielt und vertan. Wie beurteilst denn du ihn?«

»Ich habe noch nicht über ihn nachgedacht,« antwortete Christian, den dieses Gespräch zu langweilen begann.

»Auch ist er ja von dunkler Herkunft. Er war ein Findelkind, und der alte Martin Imhof, den Wahnschaffe übrigens kannte und der einer der ersten Düsseldorfer Patrizierfamilien angehörte, soll ihn unter merkwürdigen Umständen zu sich genommen haben. Er war Junggeselle, Misanthrop, wie es heißt, stand schließlich allein in der Welt und liebte das Zufallskind abgöttisch. Wußtest du das nicht?«

»Ich habe davon reden gehört,« sagte Christian.

»Nun erzähle mir etwas von dir, mein Sohn,« bat Frau Richberta mit veränderter Miene und dem Lächeln einer Leidenden.

Aber Christian schwieg. Seine Welt und der Mutter Welt, er sah keine Brücke mehr dazwischen. Und während diese Erkenntnis über ihn kam, wurde ihm noch etwas andres klar. Auch zwischen der Welt, in der er wissentlich lebte, und einer zweiten, die hinter ihr lag, nebelhaft und drohend, lockend und schrecklich, die er nicht begriff, nicht kannte, kaum ahnte, die bloß ein im Blitzesleuchten aufgetauchtes Gesicht war, ein Traum, ein flüchtiger Schauder, gab es keine Brücke.

Er küßte der Mutter die Hand und eilte hinweg.

 

11

 

Trotz rieselnden Regens ging er, in der Dämmerung, mit Lätizia durch den Park. Sie wanderten den Pfad von den Gewächshäusern bis zum Pavillon oftmals auf und ab und hörten vom Hause her Klavierspiel. Es war das Fräulein von Einsiedel, welches spielte.

Im Anfang hatte das Gespräch lange Pausen. Nimm mich, nimm mich, flehte etwas in Lätizia, und Christian, der es wohl verstand, hatte sein hochmütiges Lächeln, wagte aber nicht, sie anzublicken.

»Musik von weitem hab ich gern,« sagte Lätizia; »und Sie, Christian, mögen Sie es nicht?«

Er zog seinen Regenmantel fester zu und antwortete: »Ich mache mir nichts aus Musik.«

»Dann haben Sie ein schlechtes Herz, ein hartes wenigstens.«

»Möglich, daß ich ein schlechtes Herz habe; ein hartes ganz gewiß.«

Lätizia fragte errötend: »Was lieben Sie eigentlich? Von Dingen, meine ich. Was für Dinge lieben Sie?« Der schelmische Ausdruck ihres Gesichts gab doch dem Ernste Raum, der in der Frage enthalten war.

»Was ich liebe?« wiederholte er gedehnt, »von Dingen liebe? Ich weiß es nicht. Liebt man Dinge? Dinge braucht man, das ist alles.«

»O nein,« rief Lätizia, und ihre tiefe Stimme erzeugte eine eigentümliche Wärme in Christian, »o nein. Dinge sind da zum Lieben. Zum Beispiel Blumen und Sterne. Das sind Dinge zum Lieben. Hör ich ein schönes Lied, seh ich ein schönes Bild, so ruft es gleich in mir: mein! mein! meine Sache!«

»Auch wenn ein Vogel plötzlich aus der Luft fällt?« wandte Christian zaudernd ein, »herunterfällt und stirbt, wie es manchmal geschieht –? Auch wenn ein erschossenes Reh vor Ihnen liegt?«

Lätizia verstummte und schaute ihn ängstlich an. Unendlich wohltuend berührte ihn der Blick ihres Auges.