Dennoch hätte sie seine Unzulänglichkeit, sein erfolgloses Planen, sein Träumen und Trödeln, ja sogar seine zunehmende Neigung zum Trinken nachsichtig ertragen, wie man es den Ehefrauen ihrer Generation beigebracht hatte, hätte sie nicht zudem entdeckt, dass er «unmoralisch» war. Unmoral konnte eine hochgesinnte Frau nicht stillschweigend hinnehmen, und als sie bei der Rückkehr von einer Ruhekur12 in Kalifornien feststellen musste, dass er sich auf eine heimliche Affäre mit einer bei seiner Mutter lebenden mittellosen Verwandten eingelassen hatte, forderten sämtliche Pauline bekannten Gesetze der Selbstachtung, ihn zu verstoßen. Entsetzt warf die alte Mrs Wyant die Cousine aus dem Haus und setzte sich für ihren Sohn ein, doch Pauline blieb eisern. Sie wandte sich an den aufstrebenden Scheidungsanwalt Dexter Manford, und unter seinen fähigen Händen wurde die Angelegenheit rasch und diskret, ohne Skandal, Streit oder gegenseitige Schuldzuweisungen erledigt. Wyant zog sich ins Haus seiner Mutter zurück, und Pauline reiste als freie Frau nach Europa.

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts waren Scheidungen in der New Yorker Gesellschaft noch unüblich, und Wyant fühlte sich schlimmer in seinem Stolz verletzt, als Pauline erwartet hatte. Er lebte vollkommen zurückgezogen bei seiner Mutter, besuchte an den vom Gericht vorgeschriebenen Tagen seinen Sohn und versank in einer Art vorzeitigem Greisentum, das in einem sogar für Pauline selbst schmerzlichen Gegensatz zu ihrer eigenen wiedergewonnenen Jugend und Beweglichkeit stand. Dieser Gegensatz verursachte ihr noch lange danach Gewissensbisse, und im Lauf der Zeit, nach ihrer zweiten Heirat und dem Tod der alten Mrs Wyant, betrachtete sie den armen Arthur nicht mehr als Grund zur Klage, sondern als Verpflichtung. Sie hielt sich etwas darauf zugute, dass sie ihre Verpflichtungen nie vernachlässigte, und so stieg in ihr ein begreiflicher Groll gegen Arthur auf, weil er heute in ihrem Terminkalender vorkam und sie dadurch zwang, ihn zu verschieben.

Sie ging zurück zum Toilettentisch und betrachtete in dem großen, dreiteiligen Glas ihr Spiegelbild. Schon wieder diese feinen Falten um Lider und Lippen, diese senkrechten Furchen zwischen den Augen! Sie wollte sie nicht zulassen, nein, keine Sekunde lang. Im heuchlerischen Ton einer Mutter, die ihr verletztes Kind beschwichtigt, befahl sie sich: «Hör auf, dir Sorgen zu machen, Pauline. Du weißt genau, so etwas wie Sorgen gibt es nicht; das sind nur Verdauungsstörungen oder Mangel an Bewegung, und alles ist in bester Ordnung…»

Sie schaute erneut in den Spiegel und bildete sich ein, die Falten seien wirklich weniger sichtbar, die senkrechten Furchen weniger tief. Jetzt erblickte sie wieder eine sich gerade haltende, sportliche Frau mit eigenem Haar, eigenen Zähnen und nur einem Hauch Rouge (weil «man das eben so macht»), das einen noch immer frischen Teint zum Strahlen brachte, musterte die feinen, symmetrischen Gesichtszüge, die schwarzen, dünn aufgemalten Brauen über den ausdrucksvollen, unverwandt blickenden grauen Augen, das üppige, ergrauende Haar, das sich unter dem Zauberstab des Friseurs noch immer willig kräuselte, und die sicher auf dem Boden stehenden Füße mit dem gewölbten Rist, der sich zu schlanken Fesseln verjüngte.

Wie unsinnig, sich über diese dumme Nachricht aufzuregen, das sah ihr gar nicht ähnlich! Sie würde bei Dexter vorbeischauen und die Mahatma-Geschichte in fünf Minuten regeln. Wenn es wirklich zu einem Skandal kommen sollte, wollte sie nicht, dass Dexter in ihn verwickelt war – nicht, wenn es gegen den Mahatma ging. Niemals würde sie vergessen, dass der Mahatma der Erste war, der ihr erklärt hatte, sie habe eine Begabung fürs Übersinnliche.

Das Mädchen öffnete einen Spalt breit die Innentür und sagte vorwurfsvoll: «Madam, der Friseur; und Miss Bruss hat mich gebeten, Sie zu erinnern…»

«Ja, ja, ja!», antwortete Mrs Manford hastig, und während sie sich in ihren Kimono warf und sich vor den Toilettentisch setzte, wiederholte sie im Flüsterton: «So, ich verbiete dir, dich gehetzt zu fühlen. Du weißt, so etwas wie Hetzerei gibt es nicht.»

Doch erneut wanderte ihr Blick ängstlich zu der kleinen Uhr zwischen den Parfümfläschchen, und sie fragte sich, ob sie nicht Zeit sparen könnte, indem sie Maisie Bruss diktierte, während sie sich ondulieren und maniküren ließ. Sie beneidete Frauen, die kein Verantwortungsgefühl hatten, wie Jims kleine Lita. Sie selbst kannte nur eine einzige Welt, und die ruhte auf ihren Schultern.

3

Als Nona um Viertel nach eins das Haus ihres Halbbruders betrat, erhielt sie die Auskunft, Mrs Wyant sei noch nicht aufgetaucht.

«Und Mr Wyant auch nicht, nehme ich an? Aus seinem Büro, meine ich», fügte sie hinzu, als der junge Butler verwundert dreinblickte.

Pauline Manford war bei der Hochzeit ihres Sohnes sehr großzügig gewesen. Sie war erleichtert, dass er einen Hausstand gründete und begriffen zu haben schien, dass zu einer Ehe auch ein Beruf gehörte und das, was man eine geregelte Lebensweise nannte. Jim Unregelmäßigkeiten waren nicht etwa von der Art, an die man bei diesem Wort gemeinhin denkt. Vielmehr hatte er sich nicht entschließen können, was er mit seinem Leben anfangen sollte (genau wie sein armer Vater!), hatte immer vergessen, wie viel Uhr es war oder welche Verabredungen seine Mutter für ihn getroffen hatte; einmal hatte er sich in Cedarledge sogar ein Chemielabor gewünscht und dies dann, als es eingerichtet war, erst als Zwinger für seine Foxterrierzucht und später als ruhiges Plätzchen zum Geigenüben benutzt.

Nona wusste, wie sehr ihre Mutter unter dieser Unschlüssigkeit gelitten hatte und wie beruhigt Mrs Manford gewesen war, als der junge Mann im Rausch der Verliebtheit gelobt hatte, wenn Lita ihn nähme, würde er in ein Büro gehen und sich dort schinden wie alle anderen Ehemänner.

Wenn Lita ihn nähme! Lita Cliffe, eine Waise ohne Mitgift, der niemand zur Seite stand als eine verrückte und etwas anrüchige Tante, die «unmögliche» Mrs Percy Landish! Mrs Manford lächelte über die Bescheidenheit ihres Sohnes, während sie gleichzeitig seine guten Vorsätze lobte. «Diese Erfahrung hat aus dem lieben Jim einen Mann gemacht», sagte sie, voll sanften Triumphs über diese jüngste Bestätigung ihres Optimismus. «Wenn es nur anhält…!», fügte sie hinzu und verfiel wieder in allzu menschliches Zweifeln.

«Oh, bestimmt, Mutter, du wirst sehen – solange Lita seiner nicht überdrüssig wird», hatte Nona ihr versichert.

«Solange…? Aber liebes Kind, warum sollte Lita seiner je überdrüssig werden? Du vergisst anscheinend, welch ein Wunder es ist, dass ein Mädchen wie Lita, um das sich niemand kümmert als die arme Kitty Landish, überhaupt einen solchen Ehemann bekommen hat!»

Nona beharrte auf ihrem Standpunkt. «Mag sein, aber nimm nur dich selbst, Mutter! Haben nicht fast alle einander irgendwann satt? Und wenn es so weit ist: Hält sie irgendetwas davon ab, es noch einmal zu versuchen? Denk an deine großen Dinner! Muss Maisie nicht jedes Mal eine Liste verflossener Ehen anfertigen, so kompliziert wie ein Kreuzworträtsel, um zu verhindern, dass du die Gäste mit falschem Namen ansprichst?»

Mrs Manford tat den Angriff mit einer Handbewegung ab. «So sind Jim und Lita nicht; und ich mag es nicht, wie du über das Thema Scheidung sprichst, Nona» hatte sie in für ihre Verhältnisse ziemlich zahmem Tonfall hinzugefügt; schließlich – wie Nona ihr leicht hätte vorhalten können – variierten ihre eigenen Äußerungen zum Thema Scheidung in peinlicher Weise je nach Zeit, Ort und Scheidungsfall.

Das junge Mädchen hatte mehr als genügend Zeit, sich dieses Gespräch in Erinnerung zu rufen, während sie dasaß und auf ihren Bruder und seine Frau wartete. In dem neu eingerichteten, bewusst kahlen Haus schien es niemanden zu geben, der sie begrüßen wollte. Das Baby, nach dem sie gleich anfangs gefragt hatte, schlief, seine Mutter war wahrscheinlich noch gar nicht aufgewacht, und das Familienoberhaupt befand sich noch «im Geschäft». Nona sah sich im Salon um, und Befremden erfasste sie – was in letzter Zeit immer öfter geschah.

Der Salon, so wurde ihr plötzlich bewusst, war das vollkommene Abbild einer modernen Ehe. Trotz seiner wohlgesetzten Effekte, der fast zwanghaften Berücksichtigung von Licht und Schatten, von Komplementärfarben und all dem Zeug, das einem modernen Innenarchitekten den Schlaf raubt, glich er mehr dem Wartesaal eines besseren Bahnhofs als dem Schauplatz eines gediegenen Lebens. Nichts darin wirkte heimelig oder behaglich – von dem frühen Kakemono13 eines bärtigen Weisen auf blasser, lederfarbener Seidentapete bis zu den drei Iris Susiana, die auf dem Ödland eines ansonsten leeren Tischs einsam in einer weißen Song-Vase14 standen. Lediglich die unruhigen Bewegungen der exotischen Goldfische in einem riesigen Kugelaquarium brachten etwas Leben in den Raum, und auch das nur vorübergehend, da Lita darauf bestand, das Aquarium Tag und Nacht mit elektrischem Licht zu beleuchten, und die Fische ohne Schlaf immer starben und durch neue ersetzt werden mussten.

Das Haus und die Einrichtung hatte Mrs Manford bezahlt.