Aber man wird so schlecht empfangen bei den Zeitungen, man verweigert einem die Adressen, und: dann glaube ich, daß er seine Artikel nicht mit seinem wahren Namen unterzeichnet.«

Ohne ein Wort zu reden, hatte Busch den Arm nach den Akten Jordan ausgestreckt und sie von ihrem alphabetischen Platze genommen. Es waren sechs Wechsel von je fünfzig Franken, schon fünf Jahre alt und von Monat zu Monat ausgestellt, eine Gesamtsumme von dreihundert Franken, die der junge Mann in den Tagen des Elends seinem Schneider unterschrieben hatte. Bei Vorzeigung nicht bezahlt, waren die Wechsel durch ungeheure Kosten angewachsen und die Akten furchtbar angeschwollen, so daß zur Stunde die Schuld auf siebenhundertdreißig Franken und fünfzehn Centimes gestiegen war.

»Wenn der Mensch eine Zukunft hat«, murmelte Busch, »dann erwischen wir ihn immer noch.«

Dann brach sich wohl eine Gedankenverbindung bei ihm Bahn, und er rief: »Sagen Sie mal, und die Affäre Sicardot, geben wir die auf?«

Trauernd hob die Méchain ihre dicken Arme himmelwärts, daß die Verzweiflung ihren ganzen kolossalen Körper erschütterte.

»Ach, gütiger Herrgott«, jammerte sie mit ihrer Fistelstimme, »ich gehe noch daran zugrunde!«

Die Affäre Sicardot war nämlich eine ganz romantische Geschichte, die sie gern erzählte. Ein Bäschen von ihr, Oktavia Chavaille, spätgeborene Tochter einer Vatersschwester, war als Sechzehnjährige eines Abends auf den Treppenstufen in einem Hause der Rue de la Harpe überfallen worden, wo sie mit ihrer Mutter im sechsten Stockwerk ein kleines Logis bewohnte. Das schlimmste war, daß der betreffende Herr, ein verheirateter Mann, der, seit kaum acht Tagen mit seiner Frau eingetroffen, im zweiten Stockwerk ein Zimmer in Aftermiete bewohnte, so leidenschaftlich gewesen war, daß die arme Oktavia, mit allzu rascher Hand gegen die Ecke einer Treppenstufe geworfen, sich die Schulter verrenkt hatte. Daher gerechter Zorn der Mutter, die beinahe einen scheußlichen Skandal angefangen hätte, trotz der Tränen der Kleinen, die eingestand, daß sie sich's gerne hatte gefallen lassen, daß es nur ein Unfall war und es ihr gar zu leid täte, wenn man den Herrn ins Gefängnis brächte. Da hatte die Mutter geschwiegen und sich begnügt, eine Summe von sechshundert Franken zu fordern, auf zwölf monatliche Wechsel von fünfzig Franken verteilt. Das war ja kein häßlicher Handel, das war sogar bescheiden; denn die Tochter, die gerade als Nähterin ausgelernt hatte, konnte nichts mehr verdienen, lag krank zu Bett, kostete schwer Geld und wurde zudem so schlecht gepflegt, daß sie infolge einer Retraktion der Armmuskeln ein Krüppel blieb. Vor Ablauf des ersten Monats war der Herr verschwunden, ohne seine Adresse zu hinterlassen. Nun schritt das Unglück rasch weiter und prasselte hageldicht herab. Oktavia gebar einen Jungen, verlor ihre Mutter und verfiel in ein liederliches Leben und in tiefes Elend. In der Cité de Naples bei ihrer Base Méchain gestrandet, war sie bis zu ihrem sechsundzwanzigsten Jahre auf den Straßen herumgezogen. Sie konnte mit dem Arm nicht arbeiten, verkaufte hier und da Zitronen auf dem Hauptmarkt, verschwand dann auf ganze Wochen mit Männern, von denen sie betrunken und mit blauen Malen am Körper heimgeschickt wurde. Endlich war sie glücklicherweise das Jahr zuvor an den Folgen einer Ausschweifung zugrund gegangen, die noch abenteuerlicher war als die andern. Frau Méchain aber hatte den Knaben Viktor behalten müssen, so daß von diesem ganzen Abenteuer nur die zwölf unbezahlten Wechsel mit der Unterschrift »Sicardot« übrigblieben. Mehr hatte man nicht erfahren können als: der Herr hieß Sicardot.

Mit einer abermaligen Armbewegung griff Busch nach den Akten Sicardot, einem dünnen Heftchen mit grauer Decke. Noch waren keine Kosten aufgelaufen, nur die zwölf Wechsel waren darin.

»Ja, wenn wenigstens Viktor artig wäre!« jammerte die Alte weiter. »Aber, denken Sie sich, ein schrecklicher Bube! ... Es ist doch hart, solche Erbschaften machen zu müssen: einen Buben, der noch auf dem Schafott enden wird, und diese Papierfetzen, aus denen ich nie etwas ziehen kann!«

Busch hielt seine dicken, blassen Augen hartnäckig auf die Wechsel geheftet. Wie oft hatte er sie so beschaut, in der Hoffnung, aus einer unmerklichen Kleinigkeit, aus der Gestalt der Buchstaben, ja aus dem Korn des Stempelpapiers irgendein Anzeichen zu entdecken. Er behauptete, diese spitzige, dünne Handschrift müsse ihm bekannt sein.

»Sonderbar!« fragte er wieder. »Sicherlich habe ich schon ähnliche a und o gesehen, so spitzig, daß sie wie i aussehen!« Im selben Augenblick klopfte es.

Er bat die Méchain, die Hand auszustrecken, um die Türe aufzuschließen, denn das Zimmer ging unmittelbar auf die Treppe. Man mußte durch dasselbe schreiten, wenn man ins andre wollte, welches auf die Straße führte. Die Küche, ein dunkles Loch ohne Luft, befand sich auf der andern Seite des Ganges.

»Treten Sie ein, mein Herr!«

Und Saccard trat ein. Er lächelte, innerlich durch das Messingschild an der Türe belustigt, auf dem in großen schwarzen Lettern zu lesen stand: »Rechtsagentur.«

»Ah so, Herr Saccard! Sie kommen wegen der Übersetzung. Mein Bruder ist dort im andern Zimmer. Treten Sie doch ein!«

Aber die Méchain versperrte den Durchgang ganz und gar und schaute in Gedanken vertieft und mit wachsendem Erstaunen dem Ankömmling ins Gesicht.

Nunmehr wurde ein förmliches Manövrieren erforderlich. Saccard trat auf die Treppe zurück, und sie ging hinaus, machte sich auf dem Gange dünner, so daß jener wieder eintreten und endlich ins Nebenzimmer verschwinden konnte. Während dieser vielfältigen Bewegungen hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen.

»O«, keuchte sie, »nie hatte ich ihn so genau gesehen ... Viktor ist ja sein Ebenbild!«

Busch, der zuerst nicht begriff, blickte sie fragend an, dann ging ihm plötzlich ein Licht auf, und mit halblautem Fluch: »Himmeldonnerwetter! Ich hab's, wußte ich doch, daß ich die Schrift irgendwo gesehen hatte!«

Diesmal stand er auf, wühlte in den Akten und fand schließlich einen Brief, den Saccard im Jahr zuvor an ihn geschrieben hatte, um für eine nicht zahlungsfähige Dame um eine Frist zu bitten.