Rasch verglich er die Schriftzüge auf den Wechseln mit denjenigen auf diesem Brief. Es waren allerdings die gleichen a und die gleichen o, nur mit der Zeit noch spitziger geworden; auch war in den Anfangsbuchstaben eine auffallende Übereinstimmung.
»Er ist's, er ist's!« wiederholte er. »Aber laßt sehen, weshalb Sicardot und nicht Saccard?«
In seiner Erinnerung erwachte eine dunkle Geschichte, Saccards Vergangenheit, die ihm einst ein Agent namens Larsonneau, der Millionär geworden war, erzählt hatte: wie Saccard an dem Tage nach dem Staatsstreich nach Paris kam, um die aufgehende Macht seines Bruders Rougon auszubeuten; zuerst sein Elend in den dunkeln Gassen des alten Quartier Latin, dann sein rasch erworbener Reichtum nach einer verdächtigen Heirat, da er das Glück hatte, seine Frau bald zu begraben. Zur Zeit jener schwierigen Anfänge hatte er seinen Namen Rougon gegen Saccard vertauscht, durch einfache Umgestaltung des Namens seiner ersten Frau, die Sicardot hieß.
»Ja, ja, Sicardot, ich entsinne mich ganz gut!« murmelte Busch. »Er hat die Stirn gehabt, die Wechsel mit dem Namen seiner Frau zu unterschreiben. Jedenfalls hat das Ehepaar diesen Namen angegeben, als sie miteinander in der Rue de la Harpe abstiegen. Und dann nahm der Schuft alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, er war auf dem Sprung, um beim geringsten Alarm auszuziehen ... O, damals lauerte er nicht bloß auf Geld, er fiel auch junge Mädchen auf der Treppe an! Das ist eine Dummheit, das wird ihm schließlich noch einen bösen Streich spielen!«
»Pst, pst!« versetzte die Méchain. »Wir haben ihn, und man darf wohl sagen, daß es einen Herrgott gibt. Endlich werde ich also für alles belohnt werden, was ich für den armen kleinen Viktor getan habe! Trotz allem habe ich ihn nämlich sehr gern, ja sehr gern, obwohl er unverbesserlich ist!«
Sie strahlte, ihre gekniffenen Augen blitzten in dem schlaffen Fett ihres Gesichts.
Nach der Erregtheit dieser lange gesuchten Lösung, die ihm nun der Zufall brachte, wurde Busch beim längeren Denken kühler. Er schüttelte den Kopf. Wohl war Saccard, obgleich augenblicklich mittellos, noch gut zu scheren. Man hätte auf einen minder vorteilhaften Vater verfallen können. Aber er würde sich nicht lange plagen lassen, denn er hatte immer noch scharfe Zähne. Und dann, was weiter? Sicherlich war ihm unbekannt, daß er einen Sohn habe; er konnte trotz der außerordentlichen Ähnlichkeit, welche die Méchain verblüffte, sich aufs Leugnen verlegen. Überdies war er zum zweitenmal Witwer und frei und daher niemand Rechenschaft schuldig für seine Vergangenheit, so daß, selbst wenn er den Kleinen anerkannte, keine Einschüchterung, keine Drohung sich gegen ihn ausbeuten ließ. Wollte man aus seiner Vaterschaft nur die sechshundert Franken der Wechsel ziehen, dann war dies wahrlich gar zu jämmerlich und nicht der wunderbaren Hilfe wert, die man vom Schicksal erhalten hatte. Nein, nein, man mußte die Sache reiflich überlegen und ein Mittel finden, die Ernte in voller Reife einzuheimsen.
»Nur keine Eile!« schloß Busch. »Übrigens liegt er jetzt zu Boden, wir wollen ihm Zeit lassen, sich zu erholen.«
Ehe er die Méchain verabschiedete, beendete er die gemeinsame Prüfung der kleinen Geschäftchen, die sie übernommen hatte. Da war eine junge Frau, die um ihres Liebhabers willen ihre Juwelen verpfändet hatte; ein Schwiegersohn, dessen Schulden die Schwiegermutter, die seine Geliebte war, zahlen würde, wenn man es richtig anpackte – kurz, die feinsten Mannigfaltigkeiten des so vielgestaltigen und überaus schwierigen Inkassos.
Beim Eintritt ins Nebenzimmer blieb Saccard einen Augenblick geblendet vom grellen Licht des vorhanglosen Fensters mit den sonnenbeglänzten Scheiben. Das Zimmer mit seinen blassen, blaugeblümten Tapeten war fast nackt; in einer Ecke stand eine eiserne Bettstelle, in der Mitte ein tannener Tisch mit zwei Strohstühlen. An der Bretterwand links waren rohgehobelte Bretter als Büchergestell mit Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und allerlei Papieren überladen. Aber das in solcher Höhe grelle Sonnenlicht verlieh dem armseligen Raum in seiner Nacktheit eine jugendliche Fröhlichkeit, ein frisches, unschuldsvolles Aussehen.
Hier saß Buschs Bruder Sigismund, ein bartloser Mensch von fünfunddreißig Jahren, mit langen, dünnen braunen Haaren, vor dem Tisch, die mächtig gewölbte Stirn in die abgemagerte Hand gestützt. Er war im Lesen so vertieft, daß er nicht einmal umschaute. Er hatte die Türe nicht gehen hören.
Dieser Sigismund war ein hervorragender Mann. Auf deutschen Hochschulen aufgewachsen, sprach er außer dem Französischen, seiner Muttersprache, Deutsch, Englisch und Russisch. Im Jahre 1849 hatte er in Köln Karl Marx kennengelernt und war der beliebteste Mitarbeiter an dessen »Neuer Rheinischen Zeitung« geworden. Seitdem stand sein Glaube fest, er bekannte sich mit glühender Überzeugung zum Sozialismus und hatte seine ganze persönliche Kraft dem Gedanken einer demnächstigen gesellschaftlichen Umgestaltung gewidmet, welche die Wohlfahrt der Armen und Niedrigen begründen sollte. Seitdem sein Herr und Meister, aus Deutschland geächtet, wegen der bekannten Junitage aus Paris verbannt, in London lebte und durch seine Schriften die Partei zu organisieren bemüht war, lebte auch er seinen Träumen und kümmerte sich so wenig um das äußere Leben, daß er sicherlich verhungert wäre, wenn ihn nicht sein Bruder in seiner Wohnung Rue Feydeau in der Nähe der Börse aufgenommen und ihm den Gedanken eingegeben hätte, als Übersetzer seine Sprachkenntnisse zu verwerten.
Dieser ältere Bruder schwärmte für den jüngeren mit wahrhaft mütterlicher Leidenschaft. Dieser raubgierige Wolf, der fähig war, im Blute eines Schuldners zehn Sous aufzulesen, war sofort zu Tränen gerührt und von einer leidenschaftlichen, ja weibisch-kleinlichen Zärtlichkeit erfüllt, sobald es sich um diesen zerstreuten großen Jungen mit dem Kindergemüt handelte.
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