Ihm hatte er das große Zimmer nach der Straße eingeräumt, er bediente ihn wie eine Magd, führte den sonderbaren Haushalt, fegte die Zimmer, machte die Betten und besorgte die Kost, die man zweimal täglich von einem Speisehause der Nachbarschaft heraufbrachte. Er, der rastlos tätige Mann, dessen Kopf mit tausenderlei Geschäften angefüllt war, duldete ihn als Müßiggänger; mit den Übersetzungen nämlich ging es wegen der Privatarbeiten nicht vom Fleck. Ja, er verbot ihm sogar jede Arbeit, geängstigt durch einen bösartigen trockenen Husten. Trotz seiner hartherzigen Geldgier, seiner blutigen Habsucht, die im Gelderwerb den einzigen Grund zum Leben fand, lächelte Busch über die Lehren des Weltverbesserers und gab ihm das Kapital preis, wie man einem Knaben ein Spielzeug überläßt, das er zerbrechen muß.

Andererseits hatte Sigismund keine Ahnung von allem dem, was sein Bruder im Nebenzimmer trieb. Er wußte nichts von diesem scheußlichen Handel mit entwerteten Papieren und Außenständen; er lebte in höheren Regionen, in einem erhabenen Traum von Gerechtigkeit. Der Gedanke an Mildtätigkeit verletzte ihn und brachte ihn in Harnisch: Mildtätigkeit, das war ja ein Almosen, also die durch die Herzensgüte geweihte Ungleichheit; er aber erkannte nur das Recht an und wollte die zurückeroberten Rechte eines jeden als unveräußerliche Grundsätze der neuen Gesellschaftsordnung aufgestellt wissen. Deshalb erschöpfte dieser getreue Anhänger von Karl Marx, mit dem er immer noch in Briefwechsel stand, seine Tage mit dem Forschen und Grübeln nach dieser Neuordnung; ohne Unterlaß veränderte und verbesserte er auf dem Papier die Gesellschaft von morgen, bedeckte riesig große Bogen mit Zahlen und baute auf wissenschaftlicher Grundlage das ganze vielfältige Gerüst der allgemeinen Wohlfahrt auf. Dem einen nahm er das Kapital, um es unter alle andern zu verteilen; er wühlte in Milliarden, verschob mit einem Federstrich das Vermögen der ganzen Welt – und dies alles in einem nackten Zimmer, ohne andre Leidenschaft als seinen Wahn, ohne die geringste Genußsucht. So groß war seine Mäßigkeit, daß sein Bruder schelten mußte, damit er nur Wein trank und Fleisch aß. Dieser Schwärmer wollte, daß die Arbeit eines jeden Menschen, nach seinen Kräften bemessen, auch ihm die Befriedigung seiner Bedürfnisse sicherte, während er selbst an der Arbeit zugrunde ging und von nichts lebte. Er war ein echter Weiser, im Studium begeistert, losgelöst vom materiellen Leben, sanftmütig und tadellos rein. Seit dem letzten Herbst hustete er mehr und mehr, und es bemächtigte sich seiner die Schwindsucht, ohne daß er es nur merken und sich pflegen wollte.

Bei einer Bewegung Saccards blickte Sigismund mit seinen großen Träumeraugen endlich auf und sah erstaunt drein, obwohl er den Besuch erkannte.

»Ich komme wegen einer Übersetzung«, sprach jener.

Das Staunen des jungen Mannes wuchs, denn er hatte die Kundschaft entmutigt, die Bankiers, die Spekulanten, die Wechselmakler, diese ganze Börsenwelt, die besonders aus England und Deutschland einen zahlreichen Briefwechsel, allerlei Rundschreiben und Gesellschaftsstatuten erhielt.

»Ja, ein russischer Brief. O, nur zehn Zeilen!«

Jetzt streckte Sigismund die Hand vor, denn das Russische war seine Spezialität geblieben. Er allein übersetzte es geläufig inmitten der übrigen Dolmetscher des Stadtviertels, die vom Deutschen und Englischen lebten. Das seltene Vorkommen russischer Urkunden auf dem Pariser Markt erklärte eben seine andauernde Arbeitslosigkeit.

Laut las er den Brief auf französisch vor. Er enthielt in drei Sätzen die günstige Antwort eines Bankiers aus Konstantinopel, eine einfache geschäftliche Zusage.

»O, danke sehr!« rief Saccard, der hocherfreut dreinblickte.

Und er bat Sigismund, die wenigen Zeilen der Übersetzung auf die Rückseite des Briefes zu schreiben. Dieser aber wurde plötzlich von einem schrecklichen Hustenanfall befallen, den er in seinem Taschentuch zu ersticken suchte, um seinen Bruder nicht zu stören, da dieser herbeizulaufen pflegte, sobald er ihn laut husten hörte.

Als der Anfall vorüber war, stand er auf, tat das Fenster weit auf, halberstickt, um frische Luft zu atmen. Saccard, der ihm nachgegangen war, warf einen Blick hinunter auf die Straße und unterdrückte einen Ausruf.

»Ei, Sie haben Aussicht auf die Börse! O, wie sonderbar ist sie von hier aus!«

Nie hatte er allerdings die Börse aus der Vogelperspektive in so merkwürdiger Ansicht erblickt, mit den vier schiefen Ebenen ihres mächtigen Zinkdaches, überragt von einem starrenden Wald von Röhren. Die Spitzen der Blitzableiter richteten sich wie riesig lange Spieße drohend himmelwärts. Das Gebäude selbst war nur ein steinerner Würfel mit den regelmäßigen Streifen der Säulen, ein schmutziggrauer, nackter Steinwürfel, über dem eine zerfetzte Fahne flatterte. Einen eigentümlichen, verblüffenden Anblick boten Stufen und Säulengang, welche von schwarzen Ameisen gesprenkelt schienen, als sei der ganze Ameisenhaufen in Aufruhr und von einer hochgradigen Aufregung hin und her bewegt, die von solcher Höhe aus unbegreiflich schien und Mitleid erregen mußte.

»Wie winzig klein erscheint dies alles!« begann Saccard wieder. »Man meint, mit einem Griff könnte man sie alle in die Hand schließen.«

Dann fügte er mit Rücksicht auf die Anschauungen des andern lächelnd hinzu:

»Wann fegen Sie denn alles dieses mit einem Fußtritt zusammen?«

Sigismund zuckte mit den Achseln.

»Wozu denn? Ihr arbeitet ja selbst an euerm Zusammenbruch!«

Nach und nach wurde er mitteilsamer, und der Mund ging ihm über von dem Gegenstand, der sein Denken erfüllte. Durch sein Bedürfnis, andre zu bekehren, geriet er beim geringsten Wort in weitläufige Auseinandersetzungen über sein System.

»Jawohl! Ihr alle arbeitet ahnungslos für uns. Ihr seid da ein paar Usurpatoren, welche die Masse des Volkes des Eigentums berauben; wenn ihr vollgesogen seid, dann brauchen wir nur euch wieder zu enteignen ... Jeder Wucher, jede Zentralisierung führt zum Kollektivismus. Ihr gebt uns praktische Belehrungen, gerade so wie die Großgrundbesitzer, welche die Stückchen Feld an sich bringen, wie die großen Kredit- und Warenhäuser, die jegliche Konkurrenz überbieten und vom Untergang der kleinen Banken und der kleinen Läden sich mästen, ein langsames, aber sicheres Vorwärtsschreiten zur neuen Gesellschaftsordnung vorbereiten ... Wir warten, bis alles in den Fugen kracht, bis die jetzige Produktionsweise zu den unerträglichsten Mißständen ihrer äußersten Schlußfolgerungen geführt hat. Dann werden Bürger und Bauern von selbst mit uns zusammenstehen.«

Saccard hatte aufmerksam gelauscht. Er blickte mit unbestimmter Besorgnis auf diesen Menschen, obwohl er ihn für einen Narren hielt.

»Aber erklären Sie mir doch endlich«, versetzte er, »was ist eigentlich Ihr Kollektivismus?«

»Kollektivismus ist die Umgestaltung der Privatkapitalien, die vom Konkurrenzkrieg leben, zu einem einheitlichen Gesellschaftskapital, das durch gemeinsame Arbeit aller in Betrieb gesetzt wird ... Denken Sie sich einmal eine Gesellschaft, in welcher die Produktionswerkzeuge Eigentum aller sind, in welcher jeder nach seiner geistigen und körperlichen Kraft arbeitet und die Erzeugnisse dieser gemeinsamen Arbeit einem jeden je nach seinen Leistungen zugeteilt werden.