Und immer fröhlicher erzählte ihm Jordan, wie er seine armselige Haushaltung in einem fünften Stock der Avenue de Clichy eingerichtet habe, denn Vater und Mutter Maugendre, die einem Dichter nicht recht trauten, glaubten schon genug getan zu haben, weil sie überhaupt in die Heirat gewilligt hatten. So hatten sie gar nichts mitgegeben, unter dem Vorwande, ihre Tochter würde später einmal ihr Vermögen unversehrt erhalten, noch um ihre Ersparnisse vermehrt. Nein, die Literatur ernährte ihren Mann nicht; er plante zur Zeit einen Roman, fand aber keine Zeit zum Niederschreiben, denn er war unter die Journalisten gegangen und pfuschte in allem, was dazu gehört, von den Chroniken an bis zu Berichten aus dem Gerichtssaale und zur Rubrik »Tagesneuigkeiten«.
»Nun«, sagte Saccard, »wenn ich mein großes Geschäft in Gang bringe, werde ich Sie vielleicht brauchen. Kommen Sie gelegentlich zu mir.«
Er verabschiedete sich und ging hinter der Börse herum. Hier endlich verstummte das ferne Geschrei; das Gebell des Spieles hinter seinem Rücken war nur noch ein wirres Gemurmel, das sich im Gedröhn des Platzes verlor. Auch auf dieser Seite waren die Stufen dicht mit Menschen besetzt; aber das Maklerzimmer, dessen rote Tapeten man durch die hohen Fenster sah, trennte die Säulenhalle vom Spektakel des großen Saales. Hier saßen Spekulanten, die feinen, die reichen, gemächlich im Schatten, einige allein, andre in kleinen Gruppen, und machten dieses gewaltige offene Peristyl zu einem förmlichen Klub. Die hintere Ansicht des Börsengebäudes glich ungefähr der Rückseite eines Theaters mit dem Eingange für die Künstler.
Die Straße Notre-Dame-des-Victoires, eine verdächtige und verhältnismäßig ruhige Straße, war mit Weinkneipen, Kaffeehäusern, Bierwirtschaften und Schenken besetzt, in denen ein sonderbar gemischtes Publikum umherwimmelte. Auch die Firmenschilder wiesen auf die ungesunden Pflanzen hin, die am Rande der Kloake in der Nähe wuchsen: übelberüchtigte Versicherungsgesellschaften, Revolverblätter, Banken, Agenturen, Börsenkontore, bescheidene Räuberhöhlen in Läden oder Entresols, die kaum handbreit waren. Auf den Gehwegen und mitten auf der Fahrstraße, überall schlichen Menschen lauernd wie am Waldrand umher.
Saccard war innerhalb der Gitter stehengeblieben und schaute nach der Türe hinauf, die zum Maklerzimmer führte. Mit dem scharfen Blick eines Heerführers besichtigte er von allen Seiten her den Platz, auf den er Sturm wagen wollte, als ein langer Bursche aus einer Kneipe über die Straße geschritten kam und sich sehr tief vor ihm verneigte.
»Herr Saccard, haben Sie nichts für mich? Ich habe die Bodenkreditbank endgültig aufgegeben und suche nun eine Stellung.«
Jantrou war ein früherer Gymnasiallehrer, der infolge einer nie recht aufgeklärten Geschichte von Bordeaux nach Paris gekommen war. Gezwungen, den Staatsdienst zu verlassen, heruntergekommen und doch noch ein stattlicher Bursche mit seinem fächerförmigen schwarzen Bart und seiner frühzeitigen Glatze, im übrigen gebildet, begabt und liebenswürdig, war er als Achtundzwanzigjähriger an der Börse angelangt. Zehn Jahre lang hatte er sich als Kommissionär durchgeschlagen und schmutzig gemacht und dabei kaum das für seine Laster nötige Geld verdient. Jetzt war er ganz kahlköpfig geworden. Jammernd wie eine Dirne, deren Runzeln den Broterwerb bedrohen, harrte er immer noch der Gelegenheit, die ihn zum Erfolg, zum Reichtum führen sollte.
Als Saccard ihn so demütig dastehen sah, erinnerte er sich mit Bitterkeit an den Gruß Sabatanis bei Champeaux. Ja, ja, nur die Anrüchigen und Verbummelten bleiben ihm treu. Aber er schätzte die hohe Begabung dieses Menschen und wußte wohl, daß man die tapfersten Truppen aus den verzweifeltsten Leuten bildet, da sie alles zu gewinnen haben. Er zeigte sich also gutmütig.
»Eine Stellung?« sagte er. »Nun, das kann sich finden, kommen Sie gelegentlich zu mir.«
»Rue Saint-Lazare jetzt, nicht wahr?«
»Jawohl, Rue Saint-Lazare, vormittags.«
Jetzt plauderten sie zwanglos. Jantrou war sehr erbittert gegen die Börse; er sagte, man müsse ein Gauner sein, um dort Glück zu haben, und grollte nun, weil er in der Gaunerei Pech gehabt hatte. Jetzt sei es aus, er wolle es mit etwas anderm versuchen; vermöge seiner Universitätsbildung, seiner Weltkenntnis könne er sich bei der Verwaltung eine gute Stelle erwerben.
Saccard nickte beifällig.
Als sie die Gitterumzäunung verlassen hatten und längs des Gehwegs zur Rue Brongniart kamen, wurden beide auf eine dunkle Equipage mit sehr korrektem Gespann aufmerksam, die nach der Rue Montmartre gewendet dastand. Während der Kutscher hoch auf dem Bock in steinerner Unbeweglichkeit verharrte, hatten sie zweimal einen Frauenkopf rasch am Wagenfenster erscheinen und wieder verschwinden sehen. Mit einem Male beugte sich der Kopf heraus und vergaß sich in einem langen Blick nach der Börse hin.
»Aha, die Baronin Sandorff!« murmelte Saccard.
Es war ein sehr auffallender brauner Kopf mit brennenden schwarzen Augen unter umränderten Lidern, ein leidenschaftliches Gesicht mit blutrotem Mund und einer Nase, die leider zu lang war. Die Baronin sah mit ihrer für ihre fünfundzwanzig Jahre frühzeitigen Leibesfülle sehr hübsch aus, etwa wie eine griechische Bacchantin in der modernsten Tracht des zweiten Kaiserreichs.
»Ja, die Baronin«, wiederholte Jantrou. »Ich habe sie gekannt, als sie noch ein junges Mädchen war und bei ihrem Vater wohnte, dem Grafen Ladricourt. O, ein leidenschaftlicher Spieler und von empörender Roheit! Jeden Morgen holte ich seine Ordern, und eines Tages hätte er mich beinahe geprügelt. Ich habe ihn nicht beweint, diesen Menschen, als er ohne einen roten Heller, nach einer Reihe jammervoller Liquidationen, an einem Schlaganfall starb. Da mußte die Kleine sich entschließen, den Baron Sandorff zu heiraten, einen österreichischen Botschaftsrat, der fünfunddreißig Jahre älter war als sie und den sie mit ihren Glutaugen förmlich verrückt gemacht hatte.«
»Ich weiß schon«, erwiderte Saccard kurz.
Von neuem war der Kopf der Baronin in den Wagen zurückgetaucht, aber fast sofort erschien er wieder, noch aufgeregter, mit vorgerecktem Hals, um in die Ferne zu sehen, nach der Börse hin.
»Sie spielt, nicht wahr?«
»Ja, wie besessen; an allen kritischen Tagen kann man sie in ihrem Wagen da sehen; fieberhaft lauert sie auf die Kurse, kritzelt Notizen in ihr Taschenbuch und gibt ihre Ordern. – Da, sehen Sie, auf Massias wartete sie! Da kommt er auch schon!«
Wirklich rannte Massias herbei, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, seinen Notierungszettel in der Hand. Sie sahen, wie er in wichtiger Besprechung mit der Baronin in den Wagen hineinlehnte.
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