Dann traten sie etwas beiseite, um bei ihrem Spähen nicht überrascht zu werden, und riefen den Kommissionär an, als er immer noch eiligen Laufes zurückkam.
Zuerst warf Massias einen Blick auf die Seite, um sich zu vergewissern, daß die Straßenecke ihn verbarg; darauf blieb er rasch stehen, atemlos, das blühende Gesicht hochgerötet und trotzdem fröhlich mit seinen hervorstehenden großen blauen Augen.
»Ich weiß nicht, was los ist!« rief er. »Der Suez fällt; man spricht von einem Krieg mit England. Diese Nachricht bringt alles durcheinander, und Gott weiß, woher sie kommt. Ich bitte Sie, Krieg! Wer kann so etwas erfunden haben? Wenn's nur nicht von selbst aufgekommen ist! Kurz, ein ganz verteufelter Coup!«
»Beißt die Dame immer noch an?«
»O, und wie! Ich überbringe Nathansohn ihre Ordern.«
Saccard, der schweigend zuhörte, rief jetzt laut: »Es ist ja wahr; man hat mir erzählt, daß Nathansohn zur Kulisse gegangen ist!«
»Ein ganz netter Mensch, dieser Nathansohn!« wiederholte Jantrou. »Er verdient, Erfolg zu haben. Wir waren zusammen bei der Bodenkreditbank. Aber er wird ans Ziel kommen, denn er ist Jude. Sein Vater, ein Österreicher, ist Uhrmacher in Besançon, soviel ich weiß. – Sie wissen ja, eines Morgens hat es ihn gejuckt, dort bei der Bodenkreditbank, als er sah, wie die Geschichte zuging. Da hat er gedacht, es sei nicht so schwierig, man brauche ja bloß ein Zimmer und einen Schalter zu haben; so hat er denn einen Schalter aufgetan. – Und Sie, sind Sie zufrieden, Massias?«
»Nun, zufrieden! Sie kennen's ja, Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß man ein Jude sein muß; sonst ist alle Mühe verloren, man versteht nichts, man hat keine glückliche Hand, Pech, immer wieder Pech! ... Welch schmutziges Geschäft! Aber wenn man einmal dabei ist, so bleibt man dabei, und dann stehe ich immer noch fest auf den Beinen und habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«
Massias eilte lachend wieder fort. Er galt als Sohn eines abgesetzten Justizbeamten aus Lyon, hatte seine Rechtstudien nicht mehr fortsetzen wollen und war so, nach dem Verschwinden seines Vaters, an die Börse geraten.
Saccard und Jantrou schritten nun langsam gegen die Rue Brongniart zurück und trafen daselbst wieder den Wagen der Baronin, aber mit geschlossenen Fenstern. So schien der geheimnisvolle Wagen leer, während die Unbeweglichkeit des Kutschers scheinbar bei diesem Warten zugenommen hatte, das oft bis zum letzten Kurs sich ausdehnte.
»Sie ist teufelsmäßig aufregend,« begann Saccard unvermittelt. »Ich begreife den alten Baron.«
Jantrou lächelte sonderbar.
»O, der Baron hat schon lange genug, denke ich mir; dazu ist er sehr filzig, wie man sagt. – Wissen Sie denn auch, mit wem sie sich eingelassen hat, um ihre Rechnungen bezahlen zu können, da das Spiel nie genug abwirft?«
»Nein.«
»Nun, mit Delcambre.«
»Delcambre? Der Oberstaatsanwalt? Der lange, dürre Herr, so gelb und so steif! Ein künftiger Minister! ... Ei, die möchte ich einmal beieinander sehen!«
In lauter Fröhlichkeit verabschiedeten sie sich mit kräftigem Händedruck, nachdem Jantrou den andern daran erinnert hatte, er werde sich demnächst erlauben, ihn zu besuchen.
Sobald Saccard sich wieder allein sah, bemächtigte sich seiner abermals die laute Stimme der Börse, die mit der Hartnäckigkeit der zurückgestauten Flut heranbrauste. Er war um die Ecke gegangen und schritt jetzt der Rue Vivienne zu, über die Seite des Platzes, die infolge des Fehlens von Kaffeehäusern ernster aussieht. Er wandelte der Handelskammer, dem Postamt, den großen Annoncenagenturen entlang, und seine fieberhafte Betäubung nahm zu, je näher er der Hauptfassade kam. Sobald er von der Seite durch den ganzen Säulengang blicken konnte, machte er aufs neue halt, als wollte er seinen Rundgang um die Kolonnade noch nicht vollenden, jene leidenschaftliche Einschließung, deren Kreise er immer enger zog. Hier, wo die Straße sich verbreiterte, war das Treiben ungestört und überlaut; eine Flut von Gästen ergoß sich in die Kaffeehäuser, der Kuchenbäckerladen wurde nicht leer; vor den Schaufenstern scharte sich die Menge, namentlich vor einem Goldschmiedsladen, der von großen Stücken Silbergeschirr strahlte. An den vier Ecken, den vier Kreuzwegen, schien es, als ob der Strom der Droschken und der Fußgänger zunehme und sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickle; die Haltestelle der Omnibusse hemmte auch den Verkehr, und die in Reih und Glied aufgestellten Wagen der Börsenkommissionäre versperrten den Gehweg fast bis zum Ende der Gitterumzäunung. Jetzt hafteten Saccards Augen auf den oberen Stufen, wo im Sonnenlicht die Gruppen schwarzröckiger Männer einzeln umherstanden. Dann schweiften sie hinauf zu den Säulen und bohrten sich in das dichte Gewühl, in das schwarze Gewimmel, aus welchem die blassen Gesichter kaum merklich wie Flecken hervorleuchteten. Alles stand, die Stühle sah man nicht. Den Kreis um die Kulisse, dort unter der Uhr, erriet man nur an dem wogenden Brausen, an den wütenden Gebärden und Worten, welche rings die Luft erschütterten. Auf der linken Seite, bei der Gruppe der Bankiers, die mit Wechselkurs und englischem Scheckverkehr beschäftigt waren, herrschte größere Ruhe; mitten hindurch schlängelte sich ohne Unterlaß die lange Reihe der zum Telegraphenamt Eilenden. Sogar unter den Seitengalerien drängten sich die Spekulanten in erdrückendem Gewoge fort und fort. Aber zwischen den Säulen, an die Eisenrampen gelehnt, streckten einzelne dem Zuschauer Bauch oder Rücken behaglich entgegen, als säßen sie zu Hause oder auf dem Polstersitz ihrer Loge. Wie eine gestoppte Maschine erbebte und erdröhnte das ganze Börsenhaus unter dem flammenden Aufflackern der allgemeinen Aufregung.
Plötzlich erkannte Saccard den Kommissionär Massias, der eiligst die Stufen heruntergerannt kam und in seinen Wagen sprang, worauf der Kutscher das Pferd antrieb.
Nun fühlte er seine Fäuste sich ballen.
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