So fest, so tief schlief er, daß ihn das Geräusch der plötzlich aufgerissenen Tür nicht weckte, daß er erst zum Bewußtsein kam, als ein Paar kleine Arme ihn umklammerten, eine liebe, geliebte Stimme jauchzte: »Pavel, Pavel, bist du endlich da?«
Er riß die Augen auf, sprang empor – schaute, wurde feuerrot, hätte auch gern etwas gesagt und konnte nicht – brannte danach, sie an sein Herz zu ziehen, und wagte es nicht. – Ach, schön, schön hatte er sich seine Schwester vorgestellt, aber so schön, wie sie ihm in Wirklichkeit erschien, doch nie und nimmermehr!
– Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das im Schnitt ein wenig an einen priesterlichen Talar mahnte, und auf der Brust ein silbernes Kreuz. Ihre blonden Haare waren in einen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing bis zum Gürtel; an der Stirn, den Schläfen, im Nacken aber kräuselten sich, der glättenden Hand eigensinnig entschlüpft, kleine, feine goldige Löckchen und umgaben den Kopf wie ein Heiligenschein.
Immer scheuer wurde die Bewunderung, mit der Pavel das Kind betrachtete, plötzlich trübten sich seine Augen, er hob den Arm empor und preßte ihn an sein Gesicht.
Diesem seltsamen Empfang gegenüber blieb die Kleine eine Weile ratlos, umfing ihren Bruder aber bald von neuem, und unter ihren Liebkosungen wich der entfremdende Bann, der ihn bei ihrem Anblick ergriffen hatte. Er setzte sich, nahm sie auf seinen Schoß, küßte und herzte sie und ließ sich von ihr erzählen, wollte auf das genaueste wissen, wie sie lebte, was sie tat, was sie lernte, vor allem jedoch – was sie zu essen bekam. Er staunte, wie geringen Wert sie auf diese so wichtige Sache legte, wie ihr um nichts so sehr zu tun war als darum, das bravste Kind im ganzen Kloster zu sein, und um die Anerkennung dieser Tatsache.
»Es ist schwer, die Bravste zu sein, weil so viele gute Kinder da sind; aber ich bin's doch!« sagte sie, richtete sich freudig auf und rief mehr im Ton der Überzeugung als der Frage: »Du bist es auch?«
»Ich?« entgegnete er, voll ehrlicher Verwunderung – – »wie soll denn ich brav sein?«
Ohne die verschränkten Finger von seinem Nacken zu lösen, streckte sie die Arme aus, bog sich zurück, sah ihm in die Augen und sprach: »Wie du brav sein sollst? – So halt – wie man halt brav ist; man tut nichts Unrechtes... Du wirst doch nichts Unrechtes tun?«
Er schüttelte den Kopf, suchte sich von ihr loszumachen, besonders aber ihren Blick zu vermeiden: »Warum soll ich nichts Unrechtes tun?« murmelte er – »es geht nicht anders.«
»Und welches Unrecht tust du zum Beispiel?«
»Zum Beispiel? ... Ich nehme den Leuten Sachen weg...«
»Was für Sachen?«
»Wie du fragst? – Was soll ich denn nehmen? was ich immer genommen habe, Obst – oder Rüben oder Holz...«
Mit steigender Angst, aber noch zweifelnd, schrie die Kleine auf: »Dann bist du ja ein Dieb!«
»Ich bin auch einer.«
»Das ist nicht wahr! sag, daß es nicht wahr ist, daß du nicht schlecht bist! um Gottes willen, sag es...«
Sie drohte, schmeichelte und geriet in Bestürzung, als er die Entschuldigung vorbrachte: »Wie soll ich nicht schlecht sein? Die Eltern sind ja auch schlecht gewesen.«
»Just deswegen!« rief sie, »begreifst du's nicht? – Just deswegen bin ich die Bravste im ganzen Kloster und mußt du der Bravste sein im ganzen Dorf... damit der liebe Gott den Eltern verzeiht, damit ihre Seelen erlöst werden... Denk an die Seele des Vaters, wo die jetzt ist...«
Eine fliegende Blässe überzog wie ein Hauch ihre rosigen Wangen. »Wir müssen immer beten«, fuhr sie fort, »beten, beten und gute Werke tun und uns bei jedem guten Werke sagen: Für die arme Seele, die im Fegefeuer brennt.«
Mit tiefster Durchdrungenheit stimmte Pavel bei: »Ja, die brennt gewiß.«
»O Gott im Himmel! ... und weißt du, was ich glaube?« flüsterte die Kleine – »wenn wir schlimm sind, da brennt sie noch ärger, weil der liebe Gott sich denkt, das kommt von dem bösen Beispiel, welches diese Kinder bekommen haben von...« Sie hielt inne, schluckte einigemal nacheinander, ihre Augen öffneten sich weit und starrten den Bruder voll leidenschaftlichen Schmerzes an. Plötzlich faßte sie seinen Kopf mit beiden Händen, drückte ihr Gesicht an das seine und fragte: »Warum stiehlst du?«
»Ach was«, erwiderte er, »laß mich.«
Sie umklammerte ihn fester und rief wieder ihr beschwörendes: »Sag! sag!« und da er durchaus nicht Rede stehen wollte, begann sie zu raten: »Stiehlst du vielleicht aus Hunger... Bist du vielleicht manchmal hungrig?«
Er lächelte gelassen: »Ich bin immer hungrig.«
»Immer!«
»Ich denk aber nicht immer dran«, suchte er sie zu beruhigen, als sie in Jammer ausbrach über diese Antwort; doch hörte die Kleine ihn nicht an, sondern rannte, unter heftigen Vorwürfen gegen sich selbst, aus dem Zimmer.
Bald erschien sie wieder, gefolgt von einer Laienschwester, die einen reichlich mit Brot und Fleisch besetzten Teller trug. Der wurde auf den Tisch gestellt und Pavel eingeladen, sich's schmecken zu lassen.
Er machte der Aufforderung Ehre, aß hastig, war aber erstaunlich bald satt.
»Ist das dein ganzer Appetit?« fragte die Klosterdienerin und sah ihn mit jungen hellen Augen freundlich an. »Bist nicht gewohnt ans Essen, hast gleich genug, ich kenn das schon. Woher kommt er denn, wer ist er?« wandte sie sich an Milada.
»Von zu Hause«, antwortete diese, »er ist mein Bruder.«
»Nun ja, in Christus, jeder Arme ist unser Bruder in Christus.«
»So mein ich's nicht, er ist mein wirklicher Bruder!« beteuerte Milada und wurde böse, als die Schwester sie ermahnte, sich erstens nicht zu ärgern und zweitens nicht einmal im Scherz eine Unwahrheit zu sagen.
»Aber ich sag ja keine Unwahrheit, Schwester Philippine! Fragen Sie die ehrwürdige Mutter, fragen Sie das Fräulein Pförtnerin! ...« eiferte das Kind. Die Klosterdienerin aber erwiderte gutmütig verweisend: »Seien Sie ruhig, Fräulein Maria, seien Sie nicht schlimm, Sie waren schon so lange nicht mehr schlimm. Nur nicht wieder in den alten Fehler verfallen, sonst müßt ich's melden; Sie wissen recht gut, daß ich's melden müßt.« Damit nahm sie rasch den Teller vom Tisch, nickte den Kindern einen munteren Abschiedsgruß zu und ging.
»Sie will nicht glauben, daß ich dein Bruder bin«, sprach Pavel nach einer Weile.
Milada legte wieder ihre Wange an die seine und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht glaubt sie's doch.«
»Glaubt's doch? ... Warum tut sie dann so? ... Und warum hast du ihr's nicht besser gesagt? Warum warst du gleich still? ... Ich bin still, wenn ich recht hab, weil's mich freut, wenn die Leut so dumm sind, und ich mir dann so gut denken kann: Ihr Esel! – Aber du brauchst das nicht.«
»Ja ich! ich bin auch still, nicht aus Trotz und Hochmut wie du – aus Demut und Selbstüberwindung.« Sie warf sich in die Brust, und ihr Gesichtchen leuchtete vor Stolz: »Damit die Engel im Himmel ihre Freude an mir haben.«
Nachdem sie sich an der Bewunderung geweidet, mit der er sie ansah, fuhr sie fort: »Pavel, ich darf unserer Mutter nicht schreiben, aber du schreibe ihr; schreibe ihr, daß ich immerfort für sie bete und nichts anderes werden will als eine Heilige... Ja! ... und daß ich auch für sie sorge, schreibe ihr, und mir alle Tage etwas abbreche für sie und alle Tage wenigstens ein gutes Werk tue für sie... Und du, Pavel«, unterbrach sie sich, faßte ihn an beiden Schultern und fragte: »Was tust du für unsere Mutter?«
»Ich?« lautete seine Antwort, »– ich tu halt nichts.«
»Ach geh! du wirst schon etwas tun...«
»Was soll ich tun? – ich weiß nicht was.«
»So sag ich dir's! – Du sollst dran denken, was die Mutter anfangen wird, wenn sie heimkehrt: Wohin soll sie gehen, wo soll sie wohnen, die arme Mutter?«
Und nun kam Milada mit einem ganz fertigen Plan, der darin bestand, daß Pavel einen Grund kaufen und für die Mutter ein Haus bauen müsse.
Er ärgerte sich: »Wie soll denn ich ein Haus bauen? Ich hab ja kein Geld.«
»Aber ich habe!« rief das Kind. »Wart, ich bring dir's... bleib ruhig sitzen und wart.«
Eilends flog sie davon; lange jedoch dauerte es, eh sie wiederkam. Die Pförtnerin folgte ihr und hielt einen Gegenstand, den Milada in der Hand trug, scharf im Auge: »Halt«, sprach die Klosterfrau, »was wollen Sie damit tun?«
»Ich schenk es meinem Bruder, ich hab Erlaubnis von der ehrwürdigen Mutter.«
Die Pförtnerin betrachtete das Kind mißbilligend, fragte gedehnt: »Wirklich?« und zog sich langsam mit leise gleitenden Schritten zurück.
Milada schwang triumphierend einen gestrickten Beutel, durch dessen weite Maschen es hell und silbern blinkte. Er enthielt ihre Ersparnisse, das von der Frau Baronin erhaltene und gewissenhaft zurückgelegte Wochengeld, im ganzen vierunddreißig Gulden. Daß man damit noch keinen Grund kauft und noch kein Haus baut, leuchtete sogar dem geschäftsunkundigen Pavel ein; aber es war doch ein Anfang, es war doch ein Eigentum, an das sich die Hoffnung, es zu vergrößern, knüpfen ließ. Die Kinder berieten, wie das geschehen solle, und Milada kam bald darauf, daß ihr Bruder fleißig arbeiten und etwas verdienen müsse.
Pavel aber meinte: »Wie soll denn ich etwas verdienen? Solang ich beim Hirten bin, kann ich nichts verdienen...
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