»Es ist spät, laß uns schlafen. Es wird uns Unglück bringen, wenn wir schon im voraus rechnen. Ich habe die Stelle noch nicht. Sei vor allem verschwiegen.«
Die Lampe erlosch, aber Félicité konnte nicht einschlafen. Mit geschlossenen Augen baute sie wunderbare Luftschlösser. Die zwanzigtausend Francs Jahreseinkommen tanzten in der Dunkelheit vor ihr einen wahren Teufelsreigen. Sie bewohnte eine schöne Wohnung in der Neustadt, trieb den gleichen Luxus wie Herr Peirotte, gab Abendgesellschaften und ärgerte mit ihrem Reichtum die ganze Stadt. Was ihrer Eitelkeit am meisten schmeichelte, war die schöne Stellung, die ihr Mann dann bekleiden würde. Er würde Leuten wie Granoux und Roudier ihre Zinsen auszahlen, all den Bürgern, die heute zu ihr kamen, wie man in ein Café geht, um laut zu reden und die Tagesneuigkeiten zu erfahren. Sie hatte sehr genau gemerkt, in welch ungezwungener Art diese Menschen ihren Salon betraten, und sie hatte es ihnen im stillen verübelt. Selbst der Marquis mit seiner ironischen Höflichkeit fing an, ihr zu mißfallen. Allein zu triumphieren, den ganzen Kuchen, wie sie sich ausdrückte, für sich zu behalten, war somit eine Rachevorstellung, der sie liebevoll nachhing. Später einmal, wenn sich diese unhöflichen Herren mit dem Hut in der Hand bei Herrn Steuerdirektor Rougon einfänden, würde sie sie ihrerseits demütigen. Die ganze Nacht über wälzte sie diese Gedanken. Als sie am folgenden Morgen die Jalousien hochzog, galt ihr erster Blick unwillkürlich der anderen Straßenseite, den Fenstern des Herrn Peirotte; sie lächelte, als sie die breiten Damastvorhänge betrachtete, die hinter den Scheiben herabhingen.
Félicités Hoffnungen hatten die Richtung gewechselt, waren aber nur noch begehrlicher geworden. Wie allen Frauen war ihr ein Stich ins Geheimnisvolle nicht unlieb. Das heimliche Ziel, das jetzt ihr Mann verfolgte, begeisterte sie mehr, als es jemals die legitimistischen Machenschaften des Herrn de Carnavant zu tun vermocht hatten. Ohne viel Bedauern ließ sie von dem Augenblick an, da ihrem Mann von anderer Seite große Vorteile winkten, die Aussichten auf das Wiederhochkommen des Marquis fahren. Übrigens war sie von bewundernswerter Verschwiegenheit und Vorsicht.
Im Grunde ihres Herzens wurde sie ständig von einer ängstlichen Neugier gequält; sie beobachtete die leisesten Bewegungen Pierres und bemühte sich zu begreifen. Wenn er sich nun auf falschem Wege befand? Wenn ihn Eugène in irgendein halsbrecherisches Unternehmen hineinzog, aus dem sie noch ausgehungerter und noch ärmer hervorgehen würden? Doch mit der Zeit kam ihr die Zuversicht. Eugène hatte mit solcher Sicherheit seine Anweisungen getroffen, daß sie schließlich doch an ihn glaubte. Außerdem wirkte dabei noch die Macht des Unbekannten mit. Pierre machte ihr geheimnisvolle Andeutungen über hohe Persönlichkeiten, bei denen ihr Ältester in Paris ein und aus ging; sie vermochte sich nicht vorzustellen, was er dort zu tun haben könnte, wohingegen es ihr unmöglich war, die Augen vor den Dummheiten zu verschließen, die Aristide in Plassans beging. In ihrem eigenen Salon scheute man sich nicht, den demokratischen Journalisten mit äußerster Härte zu verurteilen. Granoux nannte ihn knurrend einen Straßenräuber, und Roudier wiederholte zwei oder dreimal wöchentlich Félicité gegenüber: »Ihr Sohn schreibt da schöne Sachen! Gestern erst hat er unseren Freund Vuillet mit empörendem Zynismus angegriffen.«
Dem stimmte der gesamte Salon bei. Der Kommandant Sicardot sprach davon, seinen Schwiegersohn ohrfeigen zu wollen. Pierre verleugnete seinen Sohn ganz und gar. Die arme Mutter senkte den Kopf und schluckte an ihren Tränen.
1 comment