Somit war es den Rougons, diesen übelbeleumundeten armen Schluckern, gelungen, die Werkzeuge um sich zu sammeln, die zu ihrem Glück nötig waren. Jeder mußte, sei es aus Feigheit, sei es aus Dummheit, ihnen gehorchen und blind an ihrem Emporkommen arbeiten. Sie hatten nun weiter nichts zu fürchten als Einflüsse anderer, die möglicherweise im gleichen Sinne handelten wie sie selbst und ihnen einen Teil ihres mit Anstrengung erworbenen Verdienstes am Sieg rauben konnten. Das war ihre große Sorge, denn sie wollten ganz allein die Rolle des Retters spielen. Sie wußten im voraus, daß Klerus und Adel sie eher unterstützen als hemmen würden. Falls sich jedoch der Unterpräfekt, der Bürgermeister und die anderen Beamten vordrängten und den Aufstand unverzüglich unterdrückten, würden sich die Rougons in den Schatten gestellt und sogar in ihren Heldentaten behindert sehen; sie würden dann weder Zeit noch Mittel haben, sich nützlich zu erweisen. Was sie sich erträumten, war vollständige Tatenlosigkeit und allgemeine Panik sämtlicher Beamten. Wenn die ganze ordnungsgemäße Verwaltung verschwände und das Schicksal von Plassans auch nur einen einzigen Tag in ihren Händen lag, dann war ihr Glück gemacht. Günstig für sie war, daß kein einziger Mann in der ganzen Verwaltung überzeugt und rührig genug war, das Spiel zu wagen. Der Unterpräfekt war ein alter Liberaler, den die Exekutive in Plassans vergessen hatte, wohl dank des guten Rufs der Stadt; schüchtern von Natur, unfähig zu einer Gewaltmaßnahme, mußte er angesichts eines Aufstands in große Verlegenheit geraten. Die Rougons, die ihn als der demokratischen Sache wohlgesonnen kannten und folglich keinen Übereifer seinerseits befürchteten, fragten sich nur voller Neugier, was für eine Haltung er einnehmen werde. Die Stadtverwaltung verursachte ihnen kaum größere Sorge. Der Bürgermeister, Herr Garçonnet, war ein Legitimist, dessen Ernennung das SaintMarcViertel im Jahre 1849 erreicht hatte; er verabscheute die Republikaner und behandelte sie sehr von oben herab. Andererseits hatte er zu viele freundschaftliche Beziehungen zu gewissen Angehörigen des Klerus, um einen bonapartistischen Staatsstreich tatkräftig zu unterstützen. Mit den übrigen Beamten verhielt es sich ebenso. Die Friedensrichter, der Postvorsteher, der Steuereinnehmer wie auch der Steuerdirektor, Herr Peirotte, alles Männer, die ihre Stellung der klerikalen Reaktion verdankten, konnten unmöglich das Kaiserreich mit großer Begeisterung begrüßen. Wenn die Rougons auch nicht recht wußten, wie sie sich dieser Leute entledigen und reinen Tisch machen sollten, um sich allein in den Vordergrund zu schieben, gaben sie sich dennoch großen Hoffnungen hin, da sie niemanden entdeckten, der ihnen ihre Retterrolle streitig machen würde.
Die Katastrophe nahte heran. Als in den letzten Novembertagen das Gerücht von einem Staatsstreich umging und man den PrinzPräsidenten verdächtigte, er wolle sich zum Kaiser ausrufen lassen, hatte Granoux laut erklärt: »Nun, wir rufen ihn zu allem aus, wozu er Lust hat, vorausgesetzt, daß er diese Lumpen von Republikanern an die Wand stellen läßt!«
Dieser Ausruf des Herrn Granoux, den man eingeschlafen wähnte, verursachte große Aufregung. Der Marquis tat, als habe er nichts gehört, aber alle bürgerlichen Anwesenden nickten dem früheren Mandelhändler beistimmend zu. Roudier, der auf Grund seines Reichtums den Mut besaß, seinen Beifall laut zu äußern, erklärte sogar mit einem Seitenblick auf Herrn de Carnavant, daß der jetzige Zustand unhaltbar sei und daß in Frankreich so schnell wie möglich aufgeräumt werden müsse, gleichgültig, von wessen Hand.
Der Marquis beobachtete weiterhin Stillschweigen, was ihm als Zustimmung ausgelegt wurde. Das Lager der Konservativen wurde also seinen legitimistischen Bestrebungen untreu und wagte es, sich dem Kaiserreich zu verschreiben.
»Meine Freunde!« sagte der Kommandant Sicardot und erhob sich. »Nur ein Napoleon vermag heute die bedrohten Menschenleben und das bedrohte Eigentum zu schützen … Seien Sie aber ohne Sorge, ich habe die notwendigen Vorkehrungen getroffen, damit die Ordnung in Plassans nicht gestört wird!«
Tatsächlich hatte der Kommandant im Einvernehmen mit Rougon in einer Art Pferdestall nahe den Festungswällen einen Vorrat an Patronen und eine recht beträchtliche Anzahl von Gewehren versteckt; zugleich hatte er sich der Mitwirkung von Nationalgardisten versichert, auf die er zählen zu können glaubte. Seine Worte machten einen ausgezeichneten Eindruck. An diesem Abend sprachen die friedlichen Bürger des gelben Salons beim Auseinandergehen davon, »die Roten« niederzumachen, falls sie sich unterstehen sollten, sich auch nur zu rühren.
Am 1. Dezember bekam Pierre Rougon einen Brief von Eugène. Mit gewohnter Vorsicht ging er ins Schlafzimmer, um ihn zu lesen.
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