Der kleine Schuljunge hatte mit Hilfe des schwarzen Possenreißers einen nicht wiedergutzumachenden Schaden bewirkt. Er hatte die Säulen der alten Aristokratie zerstört, und es war, als hätte er mit seiner Kinderhand das Haus mit den sieben Giebeln niedergerissen! Nun konnte Hepzibah ruhig die Ahnenporträts der Pyncheons gegen die Wand umdrehen, mit der Karte des Landes im Osten den Küchenherd einheizen und mit dem leeren Hauch lang gehüteter Traditionen das Feuer schüren! Was hatte sie noch mit den Vorfahren zu schaffen? Nichts – und mit der Nachwelt ebenso wenig! Sie war keine Dame mehr, sondern nur noch Hepzibah Pyncheon, eine einsame alte Jungfer, die einen Kramladen führte!
Und doch ist es völlig verblüffend, welche Ruhe über sie kam, noch während sie diese Vorstellungen fast genüsslich an sich vorbeiziehen ließ. Die Ängstlichkeit und die bösen Vorahnungen, die sie im Schlaf oder in trübsinnigen Tagträumen geplagt hatten, seitdem ihr Plan Gestalt anzunehmen begann, waren wie weggeblasen. Doch, sie spürte, wie neu ihre Lage war, aber nicht mehr sorgenvoll oder mit Schrecken. Ab und zu fühlte sie das Prickeln eines fast jugendlichen Elans. Es war der belebende Atem der frischen Außenwelt nach der langen Benommenheit und eintönigen Abgeschiedenheit ihres Lebens. So gesund ist die Anstrengung! Und so wundersam die Kraft, die wir nicht einmal kennen! Das heilsamste Feuer, das Hepzibah seit Jahren gekannt hatte, kam jetzt in der gefürchteten Krise, als sie erstmals die Hand ausstreckte, um sich selbst zu helfen. Das kleine Rund der Kupfermünze des Schuljungen – trüb und glanzlos zwar von den kleinen Diensten, die sie da und dort auf der Welt verrichtet hatte – war zu einem Gutes verströmenden Talisman geworden, der es wert war, in Gold gefasst und auf dem Herzen getragen zu werden. Er war so mächtig und vielleicht so wirksam wie ein galvanisches Plättchen! Hepzibah hatte jedenfalls seinem heimlichen Wirken an Leib und Seele einiges zu verdanken, umso mehr als es sie jetzt zum Frühstück ermunterte, bei dem sie sich zur nachhaltigen Stärkung einen zusätzlichen Löffel Schwarztee gönnte.
Trotzdem verlief ihr Eröffnungstag im Laden nicht ohne viele weitere ernsthafte Beeinträchtigungen dieser frohen Tapferkeit. Für gewöhnlich gewährt die Vorsehung den Menschen nämlich selten mehr als die Ermutigung, die sie zur einigermaßen ungehinderten Entfaltung ihrer Kräfte brauchen. So drohte bei unserer alten Aristokratin der ganze Jammer ihres Lebens ständig wiederzukehren, nachdem sich der belebende neue Schwung gelegt hatte. Es war, wie wenn am Himmel mächtige Wolken den Horizont verdunkeln und alles in graues Zwielicht tauchen, bis sie gegen Einbruch der Nacht vorübergehend ein paar Sonnenstrahlen weichen. Aber immer wieder versucht eine hartnäckige Wolke, einen Schleier zu legen über das himmlische Blau.
Im Laufe des Vormittags kamen Kunden, aber sie tröpfelten eher herein, manchmal zugegeben weder zu ihrer eigenen noch zu Miss Hepzibahs Zufriedenheit, und im Ganzen auch ohne großen Zuwachs in der Kasse zu bringen. Ein kleines Mädchen, das für seine Mutter Garn in einer passenden Farbe kaufen sollte, nahm einen Knäuel, den die kurzsichtige alte Dame für sehr ähnlich befand, kam aber bald wieder mit der barschen Antwort angerannt, dass die Farbe nicht stimme und das Garn zudem rein gar nichts mehr tauge! Dann kam eine blasse Frau mit Sorgenfalten, nicht alt, aber verhärmt und mit grauen Strähnen wie Silberbänder im Haar; eine dieser von Natur aus zarten Frauen, denen man gleich ansieht, dass ein brutaler Mann – ein Säufer, vermutlich – und ihre mindestens neun Kinder sie noch ins Grab bringen werden. Sie brauchte ein paar Pfund Mehl und wollte Geld geben, was die gestürzte Aristokratin stumm zurückwies und der armen Frau großzügiger abmaß, als wenn sie dafür bezahlt hätte. Kurz danach trat ein Mann im dreckigen blauen Baumwollkittel ein, kaufte eine Pfeife und füllte den ganzen Raum mit strengem Schnapsgeruch, den nicht nur sein heißer Atem, sondern sein ganzer Körper wie entzündliches Gas verströmte. Hepzibah kam zum Schluss, dass dies der Mann der Frau mit den Sorgenfalten sein müsse. Er fragte nach Tabakpapier, und weil sie es versäumt hatte, sich damit einzudecken, warf der gewalttätige Kunde seine neue Pfeife zu Boden und verließ den Laden mit einem unverständlichen Gemurmel im gehässigen Ton eines Fluchs. Darauf hob Hepzibah die Augen und schnitt ungewollt der Vorsehung ein Gesicht!
Nicht weniger als fünf Leute fragten an diesem Vormittag nach Ingwerbier, Wurzelbier oder einem ähnlichen Getränk und zogen sehr missgelaunt ab, als sie nichts Derartiges erhielten. Drei von ihnen ließen die Tür offen, und die anderen beiden schlugen sie so trotzig zu, dass die kleine Glocke Hepzibahs Nerven übel mitspielte. Eine rundliche, geschäftige Hausfrau aus der Nachbarschaft mit vom Herdfeuer gerötetem Gesicht stürzte in den Laden und verlangte ungestüm Hefe; und als die arme Dame ihrer erhitzten Kundin mit kühler Zurückhaltung bedeutete, dass sie diesen Artikel nicht führe, fand es diese tüchtige Hausfrau angebracht, sie regelrecht zu tadeln. «Ein Kramladen und keine Hefe», schimpfte sie, «das geht doch nicht! Wer hat schon von so was gehört! Ihr Brot wird nie aufgehen, nicht mehr als meins heute. Sie können ebenso gut gleich zumachen.»
«Ja», sagte Hepzibah mit tiefem Seufzen, «vielleicht tatsächlich!»
Abgesehen von dem erwähnten Beispiel wurden Hepzibahs damenhafte Empfindungen noch mehrfach schwer gekränkt durch den vertraulichen oder gar groben Ton, den die Leute ihr gegenüber anschlugen. Sie betrachteten sich offensichtlich nicht nur als ihresgleichen, sondern als ihre Gönner und ihr überlegen. Dabei hatte Hepzibah unbewusst die Vorstellung gehätschelt, es werde sie eine Art Glanz oder Heiligenschein umgeben, der zu Respekt vor ihrem wahren Adel oder wenigstens zu dessen schweigender Anerkennung verpflichtete. Andererseits war für sie nichts qualvoller, als wenn diese Anerkennung allzu wortreich ausgedrückt wurde. Auf ein, zwei ziemlich aufdringliche Mitleidsbezeugungen reagierte sie beinahe unwirsch, und leider hegte Hepzibah einer Kundin gegenüber gar den unchristlichen Verdacht, dass nicht der Bedarf des Artikels, der ihr angeblich fehlte, sie in den Laden geführt hatte, sondern ein bösartiges Verlangen, sie anzustarren. Die vulgäre Person war entschlossen, mit eigenen Augen zu sehen, wie sich eine vergammelte Adlige, die nicht nur die Blüte ihrer Jahre, sondern auch noch einige Zeit danach fern von der Welt verbracht hatte, hinter einem Ladentisch machte. In diesem besonderen Fall aber leistete das sonst so ungewollte und unschuldige Stirnrunzeln Hepzibah gute Dienste.
«Ich hab’ mich im Leben nie so erschrocken!», gestand die neugierige Kundin einer Bekannten, der sie den Vorfall schilderte. «Sie ist ein richtiges altes Biest, das kannst du mir glauben! Sagen tut sie zwar nicht viel, aber wenn du bloß ihren bösen Blick sehen könntest!»
Im Ganzen also führte ihre neue Erfahrung unsere gefallene Aristokratin zu sehr unangenehmen Schlüssen über die von ihr sogenannten unteren Schichten, die sie bisher aus der Position unangefochtener Überlegenheit mit Nachsicht und Mitleid betrachtet hatte.
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