Sie galt als bemitleidenswert arm, anscheinend aus freien Stücken, hatte ihr doch ihr wohlhabender Vetter, der Richter, wiederholt alle Bequemlichkeiten entweder im alten Haus oder auf seinem eigenen modernen Gut angeboten. Das letzte und jüngste Familienmitglied war ein siebzehnjähriges Mädchen vom Land, die Tochter eines weiteren Vetters des Richters, der eine junge Frau ohne Familie oder Besitz geheiratet hatte und in ärmlichen Verhältnissen jung gestorben war. Seit Kurzem war seine Witwe wieder verheiratet.
Matthew Maules Familie galt inzwischen als erloschen. Doch noch sehr lange nach dem Hexenwahn wohnten die Maules weiterhin in der Stadt, wo ihr Ahne einen so schändlichen Tod erlitten hatte. Allem Anschein nach waren sie ruhige, ehrliche, wohlmeinende Leute, die weder einzelnen Menschen noch der Allgemeinheit übelwollten wegen des Unrechts, das man ihnen angetan hatte. Und falls am eigenen Kamin die Väter zu ihren Kindern erbittert vom Schicksal des Hexers sprachen und das verlorene Erbe beklagten, drang nie etwas davon nach außen, und es folgten auch keine Taten. Es wäre nicht einmal seltsam, wenn sie vergessen hätten, dass das schwere Gebälk des Hauses mit den sieben Giebeln auf einem Fundament ruhte, das eigentlich ihnen gehörte. Die äußere Zurschaustellung von Ansehen und Reichtum hat etwas so Mächtiges, Festes und fast Unwiderstehliches, dass sich allein davon eine Daseinsberechtigung ableiten lässt oder wenigstens ein so perfekter Schein, dass nur wenige arme und bescheidene Leute die innere Kraft haben, sie auch nur insgeheim anzuzweifeln. So steht es noch heute, nachdem sehr viele alte Vorurteile gefallen sind, und vor der Revolution, als der Adel sich noch Hochmut erlauben konnte und das Volk sich mit seiner Demütigung abfand, war es erst recht so. Die Maules behielten jedenfalls ihren Groll für sich. Sie hatten in der Regel mit Armut zu kämpfen und waren immer unauffällige kleine Leute, die mit schlecht belohntem Fleiß irgendeinem Handwerk nachgingen, als Tagelöhner auf den Schiffswerften arbeiteten oder als Matrosen zur See fuhren; in der Stadt lebten sie in wechselnden Wohnungen und zuletzt im Armenhaus, das sie im Alter unausweichlich erwartete. Und nachdem sie sich so lange knapp über dem dunklen Strudel des Vergessens gehalten hatten, tauchten sie schließlich ganz hinein, wie es allen Familien, dem Adel wie dem einfachen Volk, bestimmt ist. In den letzten dreißig Jahren fand sich weder im Stadtarchiv noch auf dem Friedhof, weder im Adressbuch noch in den Kenntnissen oder Erinnerungen irgendeines Menschen die geringste Spur der Nachkommen Matthew Maules. Vielleicht gab es seine Sippe noch anderswo; hier, wo es lange so bescheiden floss, war ihr Blut versiegt.
Solange sie noch in Erscheinung trat, unterschieden sich ihre Angehörigen – nicht auffallend oder in scharfem Kontrast, sondern so, dass man es eher spürte als davon sprach – durch eine angeborene Zurückhaltung von ihrer Umwelt. Zwar schienen sie offen und umgänglich, doch wer ihnen nahe war oder kommen wollte, bemerkte einen Kreis rund um die Maules, so magisch oder unversehrbar, dass ihn niemand überwinden konnte. Es war vielleicht diese unfassbare Besonderheit, die Unzugänglichkeit für menschliche Hilfe, der sie ihr ständiges Pech im Leben zuzuschreiben hatten. Jedenfalls sicherte sie ihnen auf Dauer ihr einziges Erbe, nämlich die Gefühle des Abscheus und abergläubischen Entsetzens, die der Gedanke an die angeblichen Hexen bei den Bewohnern der Stadt auch nach dem Erwachen aus ihrem Wahn noch auslöste. Der Mantel, nein, der zerlumpte Umhang des alten Matthew Maule hatte sich über seine Kinder gelegt. Man war geneigt zu glauben, dass sie rätselhafte Eigenschaften besaßen; so schrieb man ihrem Blick eine seltsame Wirkung zu. Von den weiteren nutzlosen Talenten und Gaben, die man ihnen zusprach, stach eine besonders hervor: ihre angebliche Macht über fremde Träume. So mochten die Pyncheons wohl am helllichten Tag hochmütig durch die Straßen ihrer Heimatstadt stolzieren, aber sobald sie die verkehrte Welt des Schlafes betraten, waren sie – wenn all diese Geschichten stimmten – bloße Sklaven der gewöhnlichen Maules. Vielleicht kann die moderne Psychologie sich auf diese angeblichen Geisterbeschwörungen einmal einen Reim machen, statt sie rundweg als Einbildung abzutun.
Eine kurze Beschreibung des siebengiebligen Hauses, wie es in jüngster Zeit aussah, soll dieses einleitende Kapitel abschließen. Die Straße, wo es seine ehrwürdigen Giebel reckte, zählt längst nicht mehr zu den eleganten Vierteln der Stadt, und so war das alte Haus zwar von neuen Gebäuden umgeben, aber diese waren meist klein, ganz aus Holz und typisch für die ödeste Eintönigkeit des gewöhnlichen Lebens. Gewiss könnte jedes von ihnen das ganze Panorama menschlicher Existenz enthalten, aber kein äußerer Vorzug würde die Fantasie oder Teilnahme wecken, es dort zu vermuten. Das alte Haus unserer Geschichte dagegen, mit seinen Balken aus Weißeiche, seinen Brettern, Schindeln, dem bröckelnden Putz und selbst dem mächtigen, mehrzügigen Schornstein in der Mitte, schien nur den geringsten, unbedeutendsten Teil seiner Wirklichkeit preiszugeben. So viel an menschenmöglicher Erfahrung hatte sich dort zugetragen – so viel war gelitten und etliches auch genossen worden –, dass es überall aus dem Gebälk troff wie aus einem Herzen. Das Haus war selbst wie ein großes Menschenherz, voller Eigenleben und reich an denkwürdigen und düsteren Erinnerungen.
Das weit vorspringende Obergeschoss gab dem Haus ein so nachdenkliches Aussehen, dass man nicht daran vorbei konnte ohne die Vorstellung, es berge Geheimnisse und eine bewegte Geschichte zur allgemeinen Erbauung. Davor, dicht am Rand des nicht asphaltierten Gehsteigs, wuchs die Pyncheon-Ulme, die, verglichen mit gewöhnlichen Exemplaren, wahrhaft riesig zu nennen war. Ein Urenkel des ersten Pyncheon hatte den Baum gepflanzt, und obwohl inzwischen schon achtzig oder vielleicht fast hundert Jahre alt, war sie immer noch stark und kräftig, warf ihren Schatten über die ganze Straße, überragte die sieben Giebel und strich über das ganze schwarze Dach mit ihren hängenden Blättern. Sie verlieh dem alten Gebäude Schönheit und ließ es als Teil der Natur erscheinen.
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