Da die Straße vor etwa vierzig Jahren verbreitert worden war, lag der Vordergiebel nun genau gleichauf mit ihr. Zu beiden Seiten lief ein morscher Lattenzaun, durch den man auf einen grasbewachsenen Hof sah, wo vor allem in den Winkeln des Gebäudes Kletten wucherten, und zwar so üppig, dass die Blätter ohne Übertreibung zwei bis drei Fuß lang waren. Hinter dem Haus befand sich anscheinend ein Garten, der bestimmt einmal riesig gewesen war, nun aber von weiteren Grundstücken bedrängt und von den Häusern und Schuppen einer anderen Straße eingemauert wurde. Eine zwar winzige, aber unverzeihliche Unterlassung wäre es, würden wir das grüne Moos nicht erwähnen, das schon seit Langem die Fensterstürze und Dachschrägen überzog; und wir dürfen auch nicht vergessen, den Leser auf ein paar Büschel, nein, nicht Unkraut, sondern Blumen aufmerksam zu machen, die in luftiger Höhe unweit des Kamins in einer Nische zwischen zwei Giebeln wuchsen. Man nannte sie die Blumen der Alice, nach einer gewissen Alice Pyncheon, die der Überlieferung nach die Samen in den Wind geworfen hatte, die dann im Straßenstaub und Moder auf dem Dach Nahrung fanden und dort noch wuchsen, als Alice längst in ihrem Grab lag. Wie immer die Blumen dorthin gekommen sein mochten, jedenfalls war es traurig und rührend zugleich mit anzusehen, wie die Natur sich diesen trostlos zerfallenden, zugigen, klapperigen alten Stammsitz der Pyncheons zu eigen machte; wie die wiederkehrenden Sommer ihr Bestes gaben, um ihn mit zarter Schönheit zu schmücken und dabei von Trübsinn befallen wurden.
Noch eine Besonderheit müssen wir unbedingt erwähnen, obwohl wir stark befürchten, dass sie das pittoreske, romantische Bild stört, das wir mit unsrer Beschreibung dieses achtbaren Gebäudes gerne vermitteln wollten. Am Vordergiebel, unter dem dräuenden Obergeschoss und dicht an der Straße, war eine Ladentür, in der Mitte geteilt, die obere Hälfte aus Glas, wie man es bei älteren Gebäuden oft sieht. An dieser Ladentür hatte die jetzige Bewohnerin des erhabenen Familiensitzes, wie auch einige ihrer Vorgänger, keinen geringen Anstoß genommen. Es ist eine unangenehm heikle Angelegenheit, doch da der Leser eingeweiht werden muss, mag er zur Kenntnis nehmen, dass vor etwa hundert Jahren das damalige Familienoberhaupt in ernsthafte finanzielle Nöte geriet. Der Kerl – er selbst nannte sich freilich einen Gentleman – muss ein schwarzes Schaf gewesen sein, denn statt in die Dienste des Königs oder seines Gouverneurs treten zu wollen oder den Erbanspruch auf das Land im Osten voranzutreiben, fiel ihm kein besserer Weg zum Wohlstand ein, als eine Ladentür in die Wand seines Stammsitzes zu brechen. Es war damals zwar üblich, dass Kaufleute im eigenen Haus Handel trieben und ihre Waren lagerten, aber das Unternehmertum dieses Pyncheon hatte etwas erbärmlich Kleinkrämerisches. Es hieß, er habe, immerhin im Rüschenhemd, eigenhändig auf einen Shilling herausgegeben und jeden halben Penny zweimal umgedreht, um ihn auf seine Echtheit zu prüfen. Ja, er war eine Krämerseele, wie immer es zugegangen sein mochte, dass solches Blut in den Adern eines Pyncheon floss.
Sogleich nach seinem Tod war dann die Ladentür verriegelt und verrammelt und vermutlich bis zur Zeit unserer Erzählung nie mehr geöffnet worden. Die alte Theke, die Regale und das übrige Ladenzubehör blieb alles genau so, wie er es hinterlassen hatte. Man behauptete, der tote Krämer mit weißer Perücke, im Mantel aus verblichenem Samt, eine Schürze umgebunden und die rüschenbesetzten Ärmel sorgfältig zurückgestreift, sei Nacht für Nacht durch die Bretterritzen zu sehen, wie er seine Kasse plündere oder über den abgenutzten Seiten seines Journals brüte. Seine unsäglich kummervolle Miene schien zu bedeuten, dass er dazu verdammt war, in alle Ewigkeit erfolglos einen Geschäftsgewinn zu suchen.
Somit sind wir bereit – in aller Bescheidenheit, wie man sehen wird –, mit unserer Erzählung anzufangen.
KAPITEL 2
Das kleine Ladenfenster
Es war noch eine halbe Stunde bis Sonnenaufgang, als Miss Hepzibah Pyncheon – nein, nicht erwachte, denn ob die Ärmste in der kurzen Mittsommernacht überhaupt ein Auge zugetan hatte ist fraglich– aber jedenfalls von ihrem einsamen Lager aufstand und begann sich herauszuputzen; wenn wir es denn so nennen könnten, ohne sie zu verspotten. Natürlich dürfen wir auch nicht im Traum daran denken, bei der Morgentoilette einer alten Jungfer anwesend zu sein! Unsere Geschichte muss darum vor der Schwelle zu ihrer Kammer auf Miss Hepzibah warten und gestattet sich nur, ein paar schwere Seufzer zu bemerken, die hemmungslos ihrer Brust entstiegen, weil niemand hören konnte, wie kummervoll tief und laut sie waren, außer geisterhafte Ohrenzeugen wie wir. Die alte Jungfer war nämlich im alten Haus allein, bis auf einen anständigen, ordentlichen jungen Mann, der die Kunst der Daguerreotypie ausübte und seit etwa drei Monaten in einem entfernten Hausteil, oder fast schon einem Haus für sich, logierte; die Verbindungstüren waren abgeschlossen und zugesperrt und Riegel aus Eichenholz vorgeschoben. Unhörbar war also das heftige Seufzen der armen Miss Hepzibah. Unhörbar das Knacken in den steifen Gelenken, als sie neben dem Bett niederkniete. Und unhörbar für irdische Ohren, doch im entferntesten Himmel mit Erbarmen und allumfassender Liebe vernommen das fast qualvolle Gebet– ein Flüstern, ein Seufzen, ein schweigendes Ringen –, mit dem sie sich göttlichen Beistand für diesen Tag erflehte! Offensichtlich stehen Miss Hepzibah heute mehr als die alltäglichen Prüfungen bevor, nachdem sie über ein Vierteljahrhundert lang strenge Abgeschiedenheit übte und weder an der Geschäftigkeit noch an der Geselligkeit und den Freuden des Lebens teilgenommen hat. Mit solcher Inbrunst betet keine dumpfe Einsiedlerin, die der kalten, lichtlosen, stockenden Stille eines Tages entgegensieht, der nicht anders ist als unzählige zuvor!
Die Andacht der Jungfer ist beendet. Wird sie nun die Schwelle zu unserer Geschichte überschreiten? Nein, noch eine Weile nicht. Zuerst muss noch jede Schublade der großen, altmodischen Kommode mühsam und ruckartig geöffnet und darauf gegen denselben störrischen Widerstand geschlossen werden. Steife Seide raschelt, und Schritte gehen im Zimmer auf und ab. Zudem argwöhnen wir, dass Miss Hepzibah auch noch auf einen Stuhl steigt, um sich von allen Seiten und in voller Länge im billig gerahmten Ankleidespiegel über dem Tisch aufmerksam zu betrachten. Wahr und wahrhaftig! Wer hätte das gedacht! Soll so viel kostbare Zeit an die morgendliche Herrichtung und Verschönerung einer älteren Dame verschwendet werden, die niemals ausgeht, die nie Besuch bekommt und von der man, auch nachdem sie ihr Möglichstes getan hat, am besten gnädig den Blick abwendet?
Nun ist sie beinahe bereit. Gönnen wir ihr noch einen Augenblick, denn er ist dem einzigen Gefühl oder vielmehr, müssen wir angesichts seiner Überhöhung und Stärkung durch Trauer und Einsamkeit sagen, der bestimmenden Leidenschaft ihres Lebens gewidmet. Das Drehen eines Schlüssels in einem kleinen Schloss war zu hören; sie hat ein Geheimfach eines Schreibpults geöffnet und betrachtet wohl eine bestimmte Miniatur in Malbones bestem Stil2 und von einem Gesicht, das keinen weniger exquisiten Pinsel verdient hätte. Wir hatten einmal das Glück, dieses Bild zu sehen.
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