Es zeigt einen jungen Mann in einem altmodischen seidenen Morgenrock, dessen weiche Üppigkeit gut zum verträumten Antlitz mit den vollen, zarten Lippen und den schönen Augen passt, das nicht so sehr auf Geisteskraft als auf sanfte Sinnenfreude schließen lässt. Wer ein solches Gesicht hat, dem sollen wir nichts abverlangen dürfen, als dass er es leichtnimmt in der rauen Welt und darin sein Glück findet. Ist es vielleicht ein früher Geliebter von Miss Hepzibah? Nein! Sie hatte nie einen Geliebten, die Ärmste, wie wäre das möglich? Und sie wusste auch nie aus eigener Erfahrung, was Liebe genau genommen heißt. Und doch waren ihre unsterbliche Treue und ihr Vertrauen, die lebendige Erinnerung und beständige Zuneigung zum Vorbild dieses Porträts die einzige Nahrung, von der ihr Herz zehrte.

Nun hat sie die Miniatur wohl beiseitegelegt und steht wieder vor dem Spiegel. Tränen müssen weggewischt werden. Noch ein paar Schritte hin und her, und endlich – mit einem weiteren jammervollen Seufzen wie ein feuchter, kalter Windstoß aus einer lange verschlossenen Gruft, deren Tür zufällig aufsprang – erscheint jetzt Miss Hepzibah Pyncheon! Heraus tritt sie in den dämmrigen, altersdunklen Flur: eine groß gewachsene Gestalt in schwarzer Seide, mit hoher, magerer Taille. Ihre Augen sind schwach, und sie tastet sich unsicher zum Treppenhaus vor.

Inzwischen stieg die Sonne zwar noch nicht über den Horizont, aber immer näher zu dessen Rand. Ein paar Wolken, die hoch oben schwebten, erhaschten erste Strahlen und warfen den goldenen Glanz auf die Fenster aller Häuser an der Straße herab, das Haus mit den sieben Giebeln nicht ausgenommen, das zwar schon viele Sonnenaufgänge erlebt hatte, aber auch diesem froh begegnete. In seinem Widerschein waren Aussehen und Einrichtung des Raums gut zu erkennen, den Hepzibah, unten an der Treppe angekommen, betrat. Es war ein niedriger Raum mit Deckenbalken, schwarzer Täfelung und einem großen Kaminsims, der mit gemalten Fliesen eingefasst war, doch jetzt von einem Eisenbrett abgeschlossen wurde, durch das der Rauchfang eines modernen Ofens ragte. Auf dem Boden lag ein vor Zeiten dicker Teppich, inzwischen so abgetreten und ausgeblichen, dass sein einst leuchtendes Muster bis zur Unkenntlichkeit verblasst war. Zu den Möbeln zählten zwei Tische, der eine verblüffend raffiniert und mit so vielen Gliedmaßen wie ein Hundertfüßer; der andre äußerst kunstvoll gearbeitet, mit vier langen, schlanken und so zarten Beinen, dass kaum zu glauben war, wie lange der uralte Teetisch schon auf ihnen ruhte. Ein halbes Dutzend Stühle stand herum, steif und starr und so unbequem wie möglich, dass ihr bloßer Anblick ein Ärgernis war und die unangenehmsten Vorstellungen weckte von der Art Leute, für die sie getaugt hätten. Die einzige Ausnahme machte ein sehr altväterischer, kunstvoll gedrechselter Eichensessel mit hohem Rücken und so viel Platz zwischen den Armlehnen, dass seine Geräumigkeit das Fehlen der kunstvollen Schwünge wettmachte, mit denen man heute bei den Stühlen nicht geizt.

Schmückende Gegenstände, wenn man sie so nennen darf, gab es unseres Wissens bloß zwei. Der eine war eine Landkarte des Territoriums der Pyncheons im Osten: kein Stich, sondern das Werk eines begabten Zeichners früherer Zeiten, verziert mit grotesken Bildern von Indianern und wilden Tieren, darunter ein Löwe, da die Gegend naturkundlich so unbekannt war wie hinsichtlich ihrer Geografie, die abenteuerlich schief wiedergegeben wurde. Der zweite Schmuck war das Porträt des alten Obersten, das in Zweidrittelgröße die strengen Züge einer puritanisch wirkenden Persönlichkeit mit Käppchen, Spitzenkragen und grauem Bart wiedergab, die in der einen Hand eine Bibel hielt und mit der andern einen eisernen Schwertgriff reckte. Dieser war dem Künstler besser gelungen und beherrschte das Bild viel stärker als das heilige Buch. Auge in Auge mit dem Porträt verharrte Miss Hepzibah Pyncheon auf der Schwelle und betrachtete es mit einer seltsamen Grimasse, einem sonderbaren Stirnrunzeln, das alle, die sie nicht kannten, wohl als Ausdruck der Feindseligkeit und grimmigen Zorns verstanden hätten. Aber davon war keine Rede. Sie spürte im Gegenteil eine Ehrfurcht vor dem porträtierten Gesicht, wie nur eine ältliche Jungfer viele Generationen später sie aufbringen konnte, und ihr abweisender Blick war ganz unschuldig ihrer Kurzsichtigkeit zuzuschreiben und dem Bemühen, die Sehkraft so anzustrengen, dass der betrachtete Gegenstand klar statt bloß verschwommen erschien.

Wir müssen einen Augenblick bei dem beklagenswerten Mienenspiel der armen Hepzibah verweilen. Ihre Fratze – wie es die Welt, oder wenigstens der Teil davon, der manchmal einen flüchtigen Blick auf ihre Gestalt am Fenster erhaschte, mit boshafter Hartnäckigkeit nannte – hatte Miss Hepzibah sehr übel mitgespielt, weil sie ihretwegen als griesgrämige alte Jungfer galt; und es ist nicht einmal unwahrscheinlich, dass sie selbst zu einem ähnlichen Fehlurteil gekommen war, nachdem sie sich oft genug in einem trüben Spiegel betrachtet hatte und dabei in dem schemenhaften Rund immer wieder ihrem eigenen Stirnrunzeln begegnet war. «Wie grässlich mürrisch sehe ich aus!», musste sie sich oft zugeflüstert und schließlich, in ihr offensichtliches Verhängnis ergeben, geglaubt haben, es auch wirklich zu sein. Dabei kannte ihr Herz keinerlei Groll. Es war von Natur aus sanft, gefühlvoll, zitterte und bebte oft und legte all diese Schwächen auch nie ab, wenn ihre Miene sich so widernatürlich verschloss und verfinsterte. Sie fühlte innigst mit dem Herzen und verdankte ihm allein, was sie an Mut besaß.

Wir aber zögern immer noch feige auf der Schwelle zu unserer Geschichte. Ja, es widerstrebt uns zugegeben sehr, Miss Hepzibah Pyncheons Pläne zu enthüllen.

Es war schon die Rede davon, dass ein nichtswürdiger Vorfahre vor fast einem Jahrhundert im Erdgeschoss unter dem Giebel an der Straße einen Laden eingerichtet hatte. Seitdem der alte Herr sich vom Geschäft zurückgezogen hatte und unter seinem Sargdeckel schlief, blieb nicht nur die Tür zum Laden, sondern dessen ganzes Innenleben unverändert, und der Staub der Zeiten legte sich fingerbreit auf Regale und Theke und senkte die Schalen einer alten Waage, als müsste sein Wert bestimmt werden. Auch in der halb offenen Kasse häufte er sich an, wo noch ein armseliges Sixpence-Stück lag, nicht mehr und nicht weniger wert als der Familienstolz, den man dort beschämt hatte. So hatte es in dem kleinen Laden schon ausgesehen, als die alte Hepzibah noch ein Kind war und mit ihrem Bruder in dem verlassenen Raum Verstecken spielte; und so blieb es dort bis vor wenigen Tagen.

Aber nun war zwar noch das Ladenfenster den Blicken der Außenwelt verhüllt, doch drinnen hatte sich Bemerkenswertes getan. Die üppigen, schweren Girlanden, von Generationen um Generationen von Spinnen ihr Leben lang emsig gewirkt und gewoben, waren sorgfältig von der Decke gewischt worden.