»Hier ganz in der Nähe! Kommt mit, kommt mit! Ihr seid ein erfahrner Mann, Ihr seid im Besitz Eurer fünf gesunden Sinne, mich haben die meinigen so gut wie vollständig verlassen.«
»Ein Mensch verblutet sich? hier im Tale?« wiederholte der fremde Greis, »hier in dieser öden Gegend?«
»Verzieht nicht, guter Vater!« erwiderte Halbert, »die Zeit entflieht, und mit ihr das Leben jenes Aermsten! Kommt, folgt mir, Vater, und ohne einen Augenblick zu säumen!«
»Aber mein Sohn, wer wird denn so im Handumdrehen einem fremden Menschen folgen, den er zum ersten Male im Leben sieht, obendrein in einer Gegend wie dieser?« wandte der Greis ein. »Wenigstens mußt Du doch, ehe ich Dir folgen soll, mir Deinen Namen sagen und Deine Absicht künden!«
»Hier, guter Vater, ist nicht Zeit zu Auseinandersetzungen. Ich sage Euch doch, es steht ein Menschenleben auf dem Spiel. Ihr müßt helfen, sage ich Euch, Ihr müßt, oder ich bringe Euch mit Gewalt so weit, daß Ihr Ja sagt und mitgeht.«
»Nun, mein Sohn, der Gewalt bedarf es nicht,« erwiderte der Greis, »sofern es sich wirklich so verhält, wie Dein Mund mir kündet, denn in solchem Falle folge ich Dir gern willig, und um so eher, als ich in der Heilkunde nicht ganz unerfahren bin und ein Mittel in meiner Tasche trage, das Deinem Kranken gewiß wird nützlich sein können. Geh aber langsamer, mein Sohn, denn solchen Schritt kann ich nicht halten, bin ich doch von langer Wanderung stark entkräftet.«
Ungeduldig wie ein feuriges Roß, das von seinem Reiter gezwungen wird, mit einem langsamen Klepper auf einer Hochstraße gleichen Schritt zu halten, mit dem verhaltnen Ungestüm eines Wanderers, der einem Ziel entgegenjagen möchte, aber auf seinen Kameraden Rücksicht nehmen muß, weil ihm dieser noch nicht traut, lief Halbert an der Seite des Pilgers einher. Endlich hatten sie die Stelle erreicht, wo sie aus dem weiten Tale in die Schlucht hineinbiegen mußten. Hier aber blieb der Greis unschlüssig stehen, wie wenn er den Fuß nicht von der offnen Straße hinweg setzen möchte.
»Junger Mensch,« sprach er, »sofern Du gegen diese grauen Haare Schlimmes im Schilde führen solltest, so laß Dir wenigstens das eine sagen, daß Du wenig dabei wirst gewinnen können, denn ich trage keine Schätze bei mir, die Räuber und Mörder locken könnten.«
»Und ich, guter Vater,« entgegnete Halbert, »bin weder das eine noch das andre ... und doch, allmächtiger Gott im Himmel! kann ich zum Mörder werden, wenn Ihr nicht zeitig genug zu dem Verwundeten mehr kommt, ihm Hilfe zu bringen.«
»Verhält es sich wirklich so?« fragte der Greis. »Können menschliche Leidenschaften den Busen der Natur auch in ihrer tiefsten Einsamkeit bedrängen? Aber wieso sollte ich mich wundern, daß da, wo Finsternis herrscht, auch ihre Werke gedeihen? Ihr sollt den Baum erkennen an seinen Früchten ... heißt es nicht also in der Schrift? ... Geh voran, unglücklicher Jüngling! ich folge Dir.«
Und eifriger als bisher strengte der fremde Greis sich an, die Erschöpfung zu meistern, die sich seiner bemächtigt hatte, und mit seinem ungestümen Führer gleichen Schritt zu halten.
Endlich hatten sie die verhängnisvolle Stelle erreicht. Aber wie groß war das Erstaunen des jungen Schotten, als er keine Spur mehr von Piercie Shafton entdeckte! Daß ein Kampf hier stattgefunden hatte, dafür gaben noch deutliche Spuren Zeugnis. Und wenn auch der Mantel des Ritters zusammen mit seinem Leibe verschwunden war, so war doch sein Wams noch dort, wo er zuvor gelegen hatte, und der Rasen, auf den er gestreckt worden war, zeigte noch deutliche Blutspuren.
Als Halbert, von Schreck und Staunen wie gelähmt, um sich blickte, fielen seine Augen auf die Stelle, wo sich das Grab befunden hatte, und nun erst sah er, daß dasselbe nicht mehr offen, sondern zugeschüttet war. Die Erde schien also ihren neuen Gast bereits aufgenommen zu haben, denn der gewohnte Grabhügel war bereits errichtet worden und die Schollen lagen so akkurat aneinander gefügt, wie es kein Totengräber besser hätte machen können. Halberts bemächtigte sich unwiderstehlich der Gedanke, daß unter dem Erdhügel jener Mensch begraben liege, der vor kurzen noch geatmet hatte, aber durch seine grausame Handlungsweise einem frühzeitigen Grabe entgegengeführt worden war. Jene selbe Hand, die das Grab bereitet hatte, hatte nun auch das Werk vollendet und die Leiche darin geborgen! und wessen andre Hand konnte es sein, als die jenes geheimnisvollen Wesens, das er in seiner Waghalsigkeit angerufen, dem er vergönnt hatte, in sein Schicksal mit einzugreifen? Und als er so dastand, die Hände ineinander geschlungen und den Blick empor zum Himmel gerichtet, da wurde er aufgeschreckt durch die Stimme des fremden Greises, dessen Argwohn sich wieder regte, als er die Szene so völlig anders erblickte, als der Jüngling sie ihm geschildert hatte.
»Jüngling,« sprach er, »hast Du Deine Zunge mit dem Köder der Falschheit befleckt, um vielleicht wenige Tage von dem Leben eines Mannes abzuschneiden, den die Natur bald heimrufen wird, ohne daß Du es notwendig hättest, die Schuld auf Dich zu laden, daß Du ihm nach dem Leben getrachtet hast?«
»Nein! bei der himmlischen Jungfrau, Vater! solches liegt nicht in meinem Sinne und hat nicht in meinem Sinne gelegen!«
»Schwöre nicht, Jüngling,« antwortete der Greis, »weder beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, noch bei der Erde, denn sie ist sein Schemel, noch bei den Geschöpfen der Erde, denn sie sind seine Gebilde. Deine Rede sei: Ja, ja, Nein nein! was darüber ist, das ist vom Uebel. Sage mir mit einfacher, klarer Rede: weshalb und zu welchem Zweck hast Du solche Mär ersonnen, die einen verirrten Wanderer in eine noch größere Irre hat leiten müssen?«
»So gewiß ich ein Christ bin, guter Vater,« erwiderte Halbert, »so habe ich den Mann hier in seinem Blute verlassen, und doch sehe ich ihn nun nicht mehr, und das Grab, das Ihr hier seht, hat, so fürchte ich, seine sterblichen Reste schon aufgenommen!«
»Und wie heißt der Mann, um dessen Schicksal Du in solcher Bange bist?« fragte der Greis, »und wie ist es möglich, daß der auf den Tod verwundete Mann von hier weggeschafft oder an solch einsamer Stätte sollte beerdigt worden sein?«
»Er heißt,« antwortete Halbert nach einer kurzen Weile, »Piercie Shafton ... aber wer ihn von dieser Stelle, wo ich ihn auf den Tod verwundet liegen ließ, weggeschafft hat, das zu sagen ist mir ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Piercie Shafton?« wiederholte der Greis, »Sir Piercie Shafton von Wilverton? ein Verwandter des großen Piercie von Northumberland, wie es heißt? ... Jüngling, wenn Du ihn erschlugst, und wenn Du nach solcher Tat zurückkehrst in die Abtei des Abtes, dann kannst Du ebenso gut Deinen Hals in den Knoten stecken, den der Henker um den Hals seines Opfers schlingt. Sir Piercie Shafton ist gar wohl bekannt als unbedingter Schildträger des Papstes, der von Politikern, als Werkzeug klügerer Ränkeschmiede sowohl wie aber auch solcher, die lieber Böses sinnen als Gefahren bestehen, mit Vorliebe auf sogenannte verlorne Posten geschoben wird. Ich sage Dir, Jüngling, ziehe mit mir und rette Dich vor den schlimmen Folgen dieser Tat! geleite mich nach dem Schlosse Avenel, und Schutz und Sicherheit soll Dir hierfür zum Lohne werden.«
Halbert stand schweigend und ging mit sich zu Rate. Daß die Rache des Abtes nicht gelind sein werde an dem Mörder des Freundes und Gastes, war ihm freilich klar und war ihm von vornherein klar gewesen; allein bei den verschiedenen Möglichkeiten, die er vorher erwogen hatte, war ihm doch entgangen, zu erwägen, was er dann begänne, wenn Sir Piercie der unterliegende Teil sei. Wenn er nach Glendearg zurückkehrte, dann war mit aller Sicherheit anzunehmen, daß sich die Rache der Klosterbrüderschaft auf seine ganzen Angehörigen erstrecken werde; dagegen konnte es, wenn er entfloh, den Anschein gewinnen, als habe er ganz ohne Wissen der Seinigen von Anfang bis zu Ende in der Angelegenheit gehandelt und habe die Flucht ergriffen, um auch mit ihnen allen Auseinandersetzungen darüber enthoben zu sein. Halbert erinnerte sich auch der Gunst, die der Unterprior den Seinigen zuwandte, vor allem seinem Bruder Edward, und er sagte sich, daß er wohl am ehesten auf dessen Verwendung zu gunsten der Seinigen bei dem Abte zu rechnen haben dürfte, wenn er diesem würdigen Herrn seine Schuld erst von einer gewissen Entfernung von Glendearg aus unumwunden bekennte; und infolge weiterer reiflicher Erwägung dieses Gedankens entschloß er sich zur Flucht. Bestärkt wurde er hierin durch die Gegenwart des Pilgers und den Schutz, den ihm derselbe verhieß. Immerhin aber war er nicht im stande, sich darüber Klarheit zu schaffen, wie sich die Aufforderung des Greises, ihn zu seiner Sicherheit nach Avenel zu begleiten, zu dem gegenwärtigen Eigentümer der Herrschaft, Julian von Avenel, verhalten möchte.
»Frommer Vater, Ihr irrt Euch, fürchte ich,« sagte er, »in dem Manne, bei dem Ihr mir Unterkunft verschaffen wollt. Julian von Avenel war es doch gerade, der Sir Piercie Shafton nach Schottland geleitete, und sein Reisiger Christie von Clinthill hat doch diesen Südländer zu uns nach Glendearg gebracht.«
»Das ist mir sehr gut bekannt,« erwiderte der Greis; »allein, wenn Du Dich ebenso auf mich verlassen willst, wie ich mich Dir ohne Widerstreben anvertraut habe, so wirst Du bei Julian Avenel freundliche Aufnahme, zum wenigsten Sicherheit finden.«
»Nun denn, wackrer Vater,« erwiderte Halbert, »wenn ich auch Eure Aussage mit Julian Avenels Verhalten nicht in Einklang zu sehen vermag, so will ich doch, da mir Eure Worte treu und redlich erscheinen und mich meine persönliche Sicherheit wenig bekümmert, sowie nicht zum wenigsten aus Rücksicht darauf, daß Ihr Euch so unbedingt meiner Leitung anvertraut, Euer Vertrauen erwidern und Euch nach dem Schlosse Avenel geleiten, und zwar auf einem Pfade, den Ihr selbst wohl kaum gefunden haben dürftet.«
Mit diesen Worten ging er voran, und der Greis folgte ihm, lange Zeit in Schweigen versenkt.
Sechstes Kapitel.
Es war ein schmerzliches Gefühl, das Halberts Brust erfüllte, als er neben dem Greise einherschritt in dem Bewußtsein, daß dieser Weg ihn auf immer entfernte von seinem Heim und von Mary Avenel, weit schmerzlicher als es zu sein pflegt zu einer Zeit und in Ländern, wo ein Menschenleben wenig gilt, wie es in jenen Jahrhunderten vorwiegend der Fall war in Schottland; und lange Zeit ging der Greis neben dem Jüngling her, aber endlich brach er das Schweigen.
»Mein Sohn,« sprach er, »es heißt im Sprichwort, der Kummer, der sich keine Luft mache, sei tödlich. Sage mir, weshalb befällt Dich eine solche Niedergeschlagenheit? Erzähle mir das unglückliche Los, das Dich getroffen hat; es ist mir doch vielleicht möglich, Deinem jungen Leben Rat und Hilfe zu schaffen.«
»Ach,« klagte Halbert, »könnt Ihr Euch wohl wundern, daß Ihr mich bekümmert seht? Ich bin jetzt ein Flüchtling, der Mutter, Bruder und Freunde hinter sich läßt, auf dessen Seele das Blut eines Menschen lastet, der mich wohl beleidigte, aber doch nur mit eitlen Reden, die ich ihm aber blutig heimzahlte. Mein Herz sagt mir, daß ich Böses getan habe, und es müßte ja auch härter sein als diese Felsen, wenn es den Gedanken, daß ich diesen Menschen ohne Testament und Beichte zu schwerer Rechenschaft sandte vor den Herrn, seinen Gott, ertragen könnte, ohne herbe Reue darüber zu empfinden.«
»Fasse Dich, mein Sohn,« erwiderte der Wanderer, »freilich ist es eine Todsünde, Gottes Ebenbild in der Person Deines Nächsten zu vernichten, in eitlem Zorn und eitler Hoffart Staub zu Staube gesellend, einem Mitmenschen die Frist abzukürzen, die ihm der Himmel zur Reue vergönnt hat; und grade dies macht die Sünde freilich um so schlimmer.
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