Er aber schenkt ihr keine Aufmerksamkeit, sondern wendet sich wieder an Bernadette:

»Kannst du mir sagen, ma petite, an welchem Tag und in welchem Jahr du geboren bist?«

»O ja, das kann ich dem Herrn Abbé schon sagen. Ich bin geboren am siebenten Januar 1844...«

»Da siehst du’s also, Bernadette. Du bist gar nicht so dumm und kannst ganz verständig antworten... Weißt du vielleicht auch, auf welche Oktave dein Geburtstag fällt, oder, damit du mich besser verstehst, welches Fest feiern wir am Tage vor deinem Geburtstag? Erinnerst du dich? Es ist ja nicht lange her...«

Bernadette sieht den Kaplan mit derselben sonderbaren Mischung von Festigkeit und Apathie an, welche Sœur Marie Thérèse vorhin in Harnisch gebracht hat.

»Nein, daran erinnere ich mich nicht«, gibt sie zur Antwort und läßt ihren Blick nicht fallen.

»Macht nichts«, lächelt Pomian. »Dann will ich es dir und den andern sagen. Am sechsten Januar feiern wir das Dreikönigsfest. Da bringen die Heiligen Drei Könige aus Morgenland wunderbare Geschenke dem Christkind in den Stall von Bethlehem. Gold und Purpur und Weihrauch. Hast du die Krippe in der Kirche gesehn, Bernadette, wo auch die Heiligen Drei Könige abgebildet sind?«

Bernadette Soubirous wird lebhaft. Eine leichte Röte fliegt ihr übers Gesicht.

»O ja, die Krippe hab ich gesehn«, ruft sie entzückt. »All die schönen Figuren, und ganz wie wirkliche Leute, die Heilige Familie und der Ochs und der Esel und die drei Könige mit Krönchen und goldenen Stecken, o ja, die hab ich gesehn...«

Die großen Augen des Mädchens werden selbst ganz golden von der Kraft des Bildes, das es in sich wachruft.

»Somit wüßten wir also etwas über die Heiligen Drei Könige... Merk dir’s, Bernadette, und nimm dich zusammen, denn du bist schon eine erwachsene Person.«

Abbé Pomian zwinkert der Lehrerin listig zu, hat er ihr doch eine kleine Unterweisung in der rechten Pädagogik erteilt. Dann wendet er sich zur ganzen Klasse:

»Der siebente Januar ist ein wichtiger Festtag für Frankreich. Da wurde jemand geboren, der das Vaterland aus der tiefsten Schande gerettet hat. Das geschah genau vor 446 Jahren. Denkt nach, Kinder, ehe ihr antwortet!«

Sofort triumphiert irgendwo eine schrille Stimme:

»Der Kaiser Napoleon Bonaparte!«

Sœur Marie Thérèse Vauzous preßt die Hände gegen ihren Unterleib, als sei sie das Opfer einer jähen Kolik. Einige Mädchen meinen, es sei nun eine gute Gelegenheit, herauszuwiehern wie die Wilden. Der Abbé aber bewahrt seinen heiteren Ernst: »Nein, liebe Kinder, der Kaiser Napoleon Bonaparte wurde viel, viel später geboren...«

Und er geht zur Tafel und schreibt mit großen Fibelbuchstaben, denn viele der Mädchen sind noch nicht über die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens hinaus:

»Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, geboren am 7. Januar 1412 in Domrémy.«

Während der Chor der Schülerinnen in dumpfem Durcheinander diese Schrift zu entziffern beginnt, läutet die Schulglocke. Es ist elf Uhr. Bernadette Soubirous steht noch immer vor der ersten Bankreihe im leeren Raum der Prüfung. Die Nonne Marie Thérèse Vauzous richtet sich hoch auf. Ihr stolzes Gesicht wirkt im matten Februarlicht sehr leidend:

»Durch dich sind wir im Katechismus nicht weitergekommen, liebe Soubirous«, sagt sie sehr leise, so daß nur Bernadette sie hören kann. »Überleg’s dir einmal, ob du das wert bist...«

 

 

 

4

 

Café Progrès

 

 

Auf dem Stadtplatz Marcadale, wo zumeist sich das öffentliche Leben von Lourdes abspielt, liegt zwischen den beiden großen Speisehäusern das Café Français. Es ist nicht weit entfernt von der Haltestelle der Postomnibusse, von dem wichtigsten Einfallpunkt der großen Welt in die kleine Welt des Pyrenäenstädtchens. Der Cafétier, Monsieur Duran, hat unter erheblichem Kostenaufwand das Lokal im vorigen Jahre neu eingerichtet. Roter Plüsch, Marmortische, Spiegelscheiben, ein riesiger Kachelofen, der einem zinnengekrönten römischen Wachtturm gleicht. Dank dieser Festung von einem Ofen ist das Café Français der bestgeheizte Raum von Lourdes. Herr Duran aber sorgt nicht nur für Wärme, er sorgt auch für Licht. Er hat eine neuartige Form der Beleuchtung eingeführt.