Das gelob ich heilig...
Trotz der
Aussicht auf die dreißig Sous — ein unerwartetes Himmelsgeschenk — wird es
Soubirous immer dumpfer und schwerer ums Herz. Er spürt seinen Hunger als eine
Art Übelkeit, die durch den Gestank der jammervollen Ladung hinter dem
Kutschbock abscheulich verschärft wird. Die Fahrt geht vorbei am Besitztum des
Herrn de Lafite, des sagenhaft reichen Mannes von Lourdes, der ebenso wie
Soubirous als einfacher Müller begonnen hat, ehe er vom verwunschenen Glück zur
schwindelnden Höhe emporgehoben wurde. Das ausgedehnte Grundstück liegt auf der
sogenannten Chalet-Insel, die durch den Gavebogen und die Sehne des Savy-Bachs
gebildet wird, der sich einige Schritte jenseits des Felsens Massabielle in den
Fluß ergießt. Das Besitztum besteht aus dem Herrenhaus im Stil Heinrichs IV.
mit vielen Türmchen und Erkerchen, aus dem Park, aus weiten Wiesenflächen und
dem imposanten Sägewerk. In Lourdes wird diese Sägemühle mit Ehrfurcht »die
Fabrik« genannt. Sie ist weitläufig gebaut, und ein prächtiger Staudamm sammelt
die Kräfte des schmächtigen Mühlbachs zu ungeahnten Leistungen. Es gibt
außerdem noch eine kleine, alte Mühle an diesem Bach. Soubirous kann sie jetzt
von seinem Kutschbock sehen. Sie gehört Antoine Nicolau und seiner Mutter. Er
beneidet diesen Nicolau hundertmal mehr als den ganzen Herrn de Lafite mitsamt
seinem Schloß, seiner Fabrik und seinen Equipagen. Das Allzugroße flößt keinem
Neid ein. Mit Nicolau aber kann er sich messen. Ist er vielleicht schlechter
als Nicolau? Er ist vermutlich besser als Nicolau. Älter und erfahrener ist er
sicher. Der unbegreifliche Himmel hat es eben so eingerichtet, daß die Besseren
auf dem Trockenen sitzen und die Schlechtern auf der Türschwelle der Savy-Mühle
gelassen den Radschaufeln zuschauen dürfen, wie sie sich drehn und drehn.
Soubirous versetzt dem Gaul einen Peitschenhieb über die knochige Kruppe, daß
er einen Sprung macht und zu traben beginnt. Der Weg verliert sich im rostigen
Heidegras. Die schönen Silberpappeln Herrn de Lafites liegen weit zurück. Die
Chalet-Insel wird öde. Nur wilder Buchs und ein paar Haselnußstauden wachsen
hier. Die beiden Striche von Erlengebüsch, die den Gave rechter Hand, den
Savy-Bach linker Hand einsäumen, eilen aufeinander zu.
Am linken
Ufer der beiden Wasserläufe erhebt sich die felsige Anhöhe der Montagne des Espélugues.
Es ist ein unbedeutender, niedriger Rücken, dieser »Spelunkenberg« oder »Höhlenberg«.
Wenn man sich vornehmer ausdrücken will, kann man ihn auch Berg der Grotten
nennen. In sein Gefelse hat die Natur nämlich ein paar Grotten eingesprengt.
Die größte unter ihnen hat Soubirous nun vor Augen, die Grotte Massabielle. Sie
ist ein vielleicht zwanzig Schritt breites, zwölf Schritt tiefes Loch in der
Kalkwand, einem Backofen nicht unähnlich. Nackt, feucht, angefüllt mit dem
Gerölle des Gave, dessen geringstes Hochwasser sie stets überschwemmt, bietet
sie keinen erfreulichen Anblick. Zwischen dem Gerölle wächst ein wenig
Farnkraut und Huflattich. Ein einziger magerer Dornstrauch klammert sich auf
halber Höhe der Grotte etwa an den Felsen. Es ist eine wilde Rose, die einen
ovalen oder spitzbogenförmigen Ausschnitt umarmt, eine schmale Pforte gleichsam,
die in eine steinichte Nebenkammer der Grotte führt. Man könnte fast meinen,
diese Pforte oder dieses gotische Fenster seien in unbekannter Zeit von
primitiver Menschenhand in den Fels gehauen worden. Die Höhle Massabielle ist
nicht sehr beliebt beim Volke von Lourdes und bei den Bauern der Nachbardörfer
im Tale Batsuguère. Die alten Weiber wissen von allerlei Schauer- und
Geistergeschichten zu erzählen, die sich dort begeben haben.
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