In den ›Memoiren eines Operndirektors‹ schildert Moncharmin, einer der beiden Nachfolger der Operndirektoren Debienne und Poligny, die Affäre folgendermaßen:

»Ein peinlicher Vorfall störte die kleine Feier, die Monsieur Debienne und Monsieur Poligny anläßlich ihres Abschieds veranstalteten. Ich befand mich im Direktionszimmer, als ich plötzlich Mercier, den Verwalter, hereinkommen sah. Erschüttert teilte er mir mit, daß man gerade in der dritten Versenkung zwischen einer Kulissenstütze und einem Dekor für ›Le Roi de Lahore‹ den erhängten Maschinenmeister entdeckt habe. Ich rief: ›Kommen Sie schon, wir müssen ihn herunterholen!‹ Doch als ich, so schnell ich konnte, über Treppe und Bühnenleiter hingelangte, hatte der Erhängte schon keinen Strick mehr um den Hals!«

Diese Tatsache findet nun Moncharmin ganz natürlich. Ein Mann hat sich mit einem Strick erhängt, man schneidet ihn ab, der Strick ist verschwunden. O, Moncharmin erklärt das einfach so: »Da die Ballerinen und Ballettratten gerade probten, verschafften sie sich einen Talisman gegen den bösen Blick.« Eine Behauptung, sonst nichts. Können Sie sich vorstellen, daß das Corps de ballet über die Bühnenleiter nach unten eilt und im Handumdrehen den Strick des Erhängten unter sich aufteilt? Das ist kaum ernst zu nehmen. Wenn ich dagegen bedenke, an welcher Stelle die Leiche entdeckt wurde – nämlich in der dritten Versenkung –, so könnte doch leicht jemand am Verschwinden des Stricks sehr interessiert gewesen sein, nachdem dieser seinen Zweck erfüllt hatte, und wir werden später sehen, ob sich meine Vermutung als falsch herausstellt.

Die Schreckensnachricht erfüllte bald die ganze Oper, wo sich Joseph Buquet großer Beliebtheit erfreut hatte. Die Garderoben leerten sich, und die Balletteusen, die sich um die Sorelli scharten wie verängstigte Schafe um ihren Hirten, eilten, so schnell ihre rosa Beine sie tragen konnten, durch schlechtbeleuchtete Korridore und über schlechtbeleuchtete Treppen zum Foyer.

2. Kapitel

Die neue Margarete

Auf dem ersten Treppenabsatz traf die Sorelli den Grafen de Chagny, der hinaufging. Der sonst so ruhige Graf zeigte sich höchst erregt.

»Ich wollte gerade zu Ihnen«, sagte der Graf und begrüßte die junge Frau überaus galant. »Ach, Sorelli, was für ein herrlicher Abend! Und Christine Daaé – was für ein Triumph!«

»Unmöglich!« protestierte Meg Giry. »Seit sechs Monaten singt sie wie ein Reibeisen! Aber lassen Sie uns doch bitte vorbei, mein lieber Graf«, sagte die Kleine mit einem kecken Knicks, »wir möchten Näheres über den armen Mann erfahren, der sich erhängt hat.«

In diesem Augenblick kam der Verwalter geschäftig vorbei und blieb brüsk stehen, als er diese Bemerkung hörte.

»Was! Das wissen Sie schon, Mesdemoiselles?« sagte er recht grob. »Nun gut, schweigen Sie darüber … vor allem in Monsieur Debiennes und Monsieur Polignys Gegenwart! Es würde ihnen den letzten Abend verderben.«

Alle gingen zum Foyer de la Danse, das schon voll war.

Graf de Chagny hatte recht: kein Galaabend konnte sich mit diesem messen. Diejenigen, die das Glück hatten, zu den Geladenen zu gehören, erzählen heute noch ihren Kindern und Enkelkindern gerührt davon. Man male sich nur aus, daß Gounod, Reyer, Saint-Saëns, Massenet, Guiraud, Delibes der Reihe nach ihre eigenen Werke dirigierten. Unter ihren Interpreten befanden sich Faure und die Krauss, und an diesem Abend wurde für das ganze staunende und sich daran berauschende Paris jene Christine Daaé zur Offenbarung, deren rätselhaftes Schicksal ich in diesem Buch schildern möchte.

Gounod dirigierte ›La Marche funèbre d'une Marionette‹; Reyer seine schöne Ouvertüre zu ›Sigurd‹; Saint-Saëns ›La Danse macabre‹ und eine ›Rêverie orientale‹; Massenet einen noch unveröffentlichten ›Marche hongroise‹; Guiraud seinen ›Carnaval‹; Delibes ›La Valse lente de Sylvia‹ und seine ›Pizzicati‹ aus ›Coppélia‹. Mademoiselle Krauss und Mademoiselle Denise Bloch sangen: erstere den Bolero aus ›I Vespri siciliani‹, letztere den ›Brindisi‹ aus ›Lucrezia Borgia‹.

Aber aller Triumph war Christine Daaé vorbehalten, die erst einige Passagen aus ›Roméo et Juliette‹ zu Gehör brachte. Zum ersten Mal sang eine junge Künstlerin dieses Werk Gounods, das übrigens noch nicht in der Oper aufgeführt worden war und das die Opéra-Comique erst lange nach der Premiere mit Madame Carvalho im alten Théâtre-Lyrique wieder auf den Spielplan setzte. Ach, diejenigen sind zu bedauern, die nie Christine Daaé in der Rolle der Juliette gehört, die nie ihre schlichte Anmut gekannt, die nie bei den Klängen ihrer Engelsstimme vor Ergriffenheit gezittert, die nie empfunden haben, wie ihre Seele mit Christine Daaés Seele über dem gemeinsamen Grab der Liebenden von Verona schwebte:

»Mein Gott! Mein Gott! Verzeihe uns!«

Doch all das war noch nichts im Vergleich zu den überirdischen Tönen, die sie in der Gefängnisszene und im Terzett-Finale aus ›Faust‹ erklingen ließ, bei denen sie für die indisponierte Carlotta einsprang. So etwas hatte man noch nie gehört, noch nie gesehen!

Die Daaé offenbarte ›die neue Margarete‹, eine Margarete von bisher ungeahnter Brillanz und Ausstrahlung.

Der ganze Saal jubelte in seiner unsagbaren Ergriffenheit Christine zu, die schluchzend in die Arme ihrer Kollegen sank. Man mußte sie in ihre Garderobe tragen. Sie schien ihre Seele ausgehaucht zu haben. Der berühmte Kritiker P. de St.-V. hielt die Erinnerung an diese hinreißende Minute in einem Artikel fest, den er ›Die neue Margarete‹ betitelte. Als großer Künstler erkannte er, daß dieses schöne und zarte Geschöpf an diesem Abend auf der Opernbühne mehr dargebracht hatte als nur ihre Kunst, nämlich ihr Herz. Keinem Opernfreund entging es, daß Christines Herz genau so rein geblieben war wie das einer Fünfzehnjährigen. Aber P. de St.-V.