erklärte: »Um begreifen zu können, was sich gerade in der Daaé vollzogen hat, kommt man nicht um die Vermutung herum, daß sie zum ersten Mal liebt. Ich bin vielleicht taktlos«, fuhr er fort, »aber nur die Liebe ist imstande, ein solches Wunder, eine so überwältigende Umwandlung zu vollbringen. Vor zwei Jahren haben wir Christine Daaé bei ihrer Abschlußprüfung im Konservatorium gehört, und damals hat sie leise Hoffnungen in uns geweckt. Doch woher kommt heute das Sublime? Es schwebt keineswegs auf den Flügeln der Liebe vom Himmel herab, sondern ich muß annehmen, daß es aus der Hölle emporsteigt und daß Christine wie der Meistersinger Ofterdingen einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat! Wer nicht gehört hat, wie Christine das Terzett-Finale aus ›Faust‹ sang, kennt ›Faust‹ nicht: die Verzückung der Stimme und die heilige Trunkenheit einer reinen Seele gingen bis zum Äußersten!«

Trotzdem protestierten einige Abonnenten. Wieso hatte man einen solchen Schatz so lange vor ihnen verborgen gehalten? Christine Daaé war bisher ein passabler Siebel neben der etwas aufgedonnerten Margarete der Carlotta gewesen. Und erst durch den unerklärlichen und unentschuldbaren Ausfall der Carlotta an jenem Galaabend konnte sich die kleine Daaé in dem der spanischen Diva eingeräumten Teil des Programms voll entfalten! Wieso ließen Debienne und Poligny die Daaé überhaupt für die Carlotta einspringen? Kannten sie demnach deren geheimes Genie? Warum versteckten sie es, wenn sie es kannten? Warum versteckte Christine es selbst? Merkwürdig, man kannte nicht einmal ihren jetzigen Gesangslehrer! Mehrmals hatte sie erklärt, sie arbeite künftig allein. Das alles war unbegreiflich.

Graf de Chagny hatte, in seiner Loge stehend, jenen Sturm der Begeisterung miterlebt und seine lauten Bravo-Rufe dazu beigesteuert.

Graf de Chagny – Philippe Georges Marie – war damals einundvierzig. Ein Grandseigneur und gutaussehender Mann, von überdurchschnittlicher Größe, mit einnehmendem Gesicht trotz der strengen Stirn und den kühlen Augen. Frauen behandelte er mit ausgesuchter Höflichkeit, Männer etwas von oben herab, und nicht alle vergaben ihm seine gesellschaftlichen Erfolge. Er hatte ein gutes Herz und ein rechtschaffenes Gewissen. Durch den Tod des betagten Grafen Philibert wurde er Oberhaupt einer der erlauchtesten und ältesten Familien Frankreichs, deren Wappen bis auf Louis le Hutin zurückging. Das Vermögen der Chagnys war beträchtlich, und als Graf Philibert als Witwer starb, fiel es Philippe nicht leicht, eine so große Erbschaft zu verwalten. Seine beiden Schwestern und sein Bruder Raoul wollten nichts von einer Teilung wissen und beharrten weiter auf einer Gütergemeinschaft, wobei sie sich völlig auf Philippe verließen, als gäbe es noch immer das Erstgeburtsrecht. Als die beiden Schwestern am selben Tag heirateten, erhielten sie ihr Erbteil aus den Händen ihres Bruders, und zwar keineswegs wie etwas, das ihnen zustand, sondern wie eine Mitgift, für die sie sich herzlich bedankten.

Gräfin de Chagny – geborene de Moerogis de la Martynière – starb, als sie Raoul zwanzig Jahre nach der Geburt seines Bruders Philippe zur Welt brachte. Bei Graf Philiberts Tod war Raoul zwölf. Philippe kümmerte sich persönlich um die Erziehung des Knaben. Dabei halfen ihm aufs Lobenswerteste erst seine beiden Schwestern, dann eine Tante, eine Seefahrerwitwe, die in Brest lebte und die in dem jungen Raoul das Interesse für alles erweckte, was mit dem Meer zu tun hatte. Der junge Mann besuchte die ›Borda‹, bestand das Examen als einer der besten und machte eine Weltreise ohne Zwischenfälle. Dank ausgezeichneter Beziehungen sollte er der offiziellen Expedition des ›Requin‹ angehören, die den Auftrag hatte, im Nördlichen Eismeer die seit drei Jahren verschollenen Überlebenden des ›D'Artois‹ zu suchen. Bis dahin genoß er seinen sechsmonatigen Urlaub, und die Witwen des vornehmen Stadtviertels bedauerten schon den hübschen, so zart wirkenden Jüngling wegen der rauhen Arbeit, die ihm bevorstand.

Die Schüchternheit dieses Seemanns, ja ich möchte sagen, seine Unschuld war erstaunlich. Bis vor kurzem schienen ihn Frauen umsorgt zu haben. Tatsächlich war er von seinen beiden Schwestern und seiner Tante verhätschelt worden, und aus dieser rein weiblichen Erziehung hatte er treuherzige Umgangsformen bewahrt, deren Charme noch ungetrübt war. Damals war er einundzwanzig, sah aber wie achtzehn aus. Er hatte einen kleinen blonden Schnurrbart, schöne blaue Augen und den Teint eines Mädchens.

Philippe verwöhnte Raoul sehr. Er war stolz auf ihn und freute sich auf die ruhmreiche Karriere seines jüngeren Bruders in eben jener Marine, in der es einer ihrer Vorfahren, der berühmte Chagny de la Roche, zum Admiral gebracht hatte. Er benutzte den Urlaub des jungen Mannes dazu, ihm Paris zu zeigen, da dieser kaum ahnte, was es an eleganten Vergnügungen und Kunstgenüssen zu bieten hatte.

Der Graf fand, daß in Raouls Alter übertriebene Arglosigkeit arg sei. Da Philippe ein ausgeglichener Mensch war, der Arbeit und Vergnügen immer in den richtigen Proportionen sah und niemals die Haltung verlor, konnte er seinem Bruder unmöglich ein schlechtes Beispiel geben. Er nahm ihn überallhin mit. Er führte ihn sogar in das Foyer de la Danse ein. Ich weiß, daß gemunkelt wurde, der Graf stehe mit der Sorelli ›auf vertrautem Fuß‹.