Na und? War es denn ein Verbrechen, daß dieser unverheiratete Edelmann, der, vor allem nachdem er seine beiden Schwestern gut versorgt wußte, viel Muße hatte, ein oder zwei Stunden nach dem Abendessen in Gesellschaft einer Tänzerin verbrachte, die zwar nicht besonders geistreich war, aber die schönsten Augen der Welt besaß? Außerdem gab es Orte, an denen sich ein echter Pariser vom Stande des Grafen de Chagny zeigen mußte, und zu denen gehörte damals das Foyer de la Danse in der Oper.
Vielleicht hätte Philippe seinen Bruder nicht einmal hinter die Kulissen der Académie nationale de Musique geführt, wenn dieser ihn nicht mehrmals mit sanfter Beharrlichkeit darum gebeten hätte, was dem Grafen erst später wieder einfiel.
Philippe wandte sich an jenem Abend, nachdem er der Daaé Beifall gespendet hatte, Raoul zu und erschrak über dessen Blässe.
»Hast du denn nicht gemerkt«, sagte Raoul, »daß es dieser Frau schlecht geht?«
Tatsächlich mußte Christine Daaé auf der Bühne gestützt werden.
»Du fällst mir ja fast in Ohnmacht«, sagte der Graf und beugte sich zu Raoul. »Was hast du denn?«
Aber Raoul war schon aufgesprungen.
»Komm mit«, sagte er mit bebender Stimme.
»Wo willst du denn hin«, fragte der Graf erstaunt über die Erregtheit seines jüngeren Bruders.
»Natürlich nachsehen! So singt sie zum ersten Mal!«
Der Graf musterte seinen Bruder neugierig, und ein belustigtes Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
»Ach was!« Aber er fügte schnell hinzu: »Na schön, gehen wir!« Er schien sich zu amüsieren.
Sie gelangten rasch zum verstopften Eingang der Abonnenten. Während Raoul ungeduldig darauf wartete, bis zur Bühne vorzudringen, zerriß er in Gedanken seine Handschuhe. Philippe war zu gutmütig, um sich über die Ungehaltenheit seines Bruders lustig zu machen. Aber er wußte Bescheid. Er kannte jetzt den Grund für Raouls Zerstreutheit, wenn er mit ihm sprach, aber auch für dessen lebhaftes Interesse, alle Gespräche immer wieder auf die Oper zu lenken.
Sie erreichten die Bühne.
Eine Menge Befrackter drängte zum Foyer de la Danse oder zu den Künstlergarderoben. In die Schreie der Bühnenarbeiter mischten sich die lauten Anweisungen der Aufseher. Die Figuranten des letzten Bildes, die abgehen, die Statistinnen, die einen anrempeln, ein Dekor, das vorbeigetragen wird, eine Kulisse, die sich vom Schnürboden senkt, eine praktikable Tür, die man mit wuchtigen Hammerschlägen festnagelt, das dauernde »Platz machen!«, das einem wie irgendeine dem Zylinder drohende Gefahr oder wie die Ankündigung eines Rippenstoßes in den Ohren dröhnt – kurzum, dieses übliche Treiben beim Szenenwechsel, das einem Neuling unweigerlich auf die Nerven geht, also auch dem jungen Mann mit dem kleinen blonden Schnurrbart, den blauen Augen und dem Teint eines Mädchens, der, so schnell er im Gedränge konnte, die Bühne überquerte, auf der Christine Daaé gerade Triumphe gefeiert hatte und unter der Joseph Buquet gerade gestorben war.
An jenem Abend herrschte ein größeres Durcheinander denn je, aber auch Raoul zeigte sich weniger zaghaft als bisher. Er schob mit kräftiger Schulter alles beiseite, was sich ihm in den Weg stellte, wobei er sich nicht um das kümmerte, was man ihm zurief, wobei er nicht auf die Anweisungen der Bühnenarbeiter achtete. Er war nur von dem Wunsche besessen, diejenige zu sehen, deren Zauberstimme ihm das Herz geraubt hatte. Ja, er fühlte genau, daß sein armes unerfahrenes Herz nicht mehr ihm gehörte. Er hatte es zwar seit dem Tage zu verteidigen versucht, an dem er Christine, die er als kleines Mädchen kannte, wiedersah. Er hatte bei ihrem Anblick eine leise Regung verspürt, die er instinktiv verjagen wollte, denn er hatte sich geschworen – so groß waren seine Selbstachtung und sein Glaube –, nur diejenige zu lieben, die seine Frau werden sollte, und er konnte natürlich nicht im Traum daran denken, eine Sängerin zu heiraten. Aber der leisen Regung folgte wilde Leidenschaft. Leidenschaft? Ergriffenheit? Darin war Körperliches und Moralisches enthalten. Seine Brust schmerzte ihn, als hätte man sie geöffnet, um das Herz herauszuholen. Er spürte dort ein fürchterliches Loch, eine wirkliche Leere, die nur das Herz der anderen ausfüllen konnte! Dabei handelt es sich um Vorgänge einer besonderen Psychologie, die offenbar nur diejenigen nachempfinden können, die selbst von der, wie es im Volksmund heißt, ›Liebe auf den ersten Blick‹ überwältigt wurden.
Graf Philippe konnte Raoul kaum folgen. Er lächelte immer noch.
Am Ende der Bühne hinter der Doppeltür zu den Treppen, die zum Foyer, und denen, die zu den linken Souterraingarderoben führen, versperrte eine kleine Gruppe Ballettratten, die gerade aus ihrem Umkleideraum kamen, Raoul den Durchgang. Die geschminkten Lippen bedachten ihn mit mancher Schmeichelei, die er nicht erwiderte; endlich gelang es ihm, sich an ihnen vorbeizuzwängen und in einen dunklen Korridor einzudringen, der von Beifallsrufen begeisterter Verehrer widerhallte. Ein Name übertönte das Getöse: »Daaé! Daaé!« Hinter Raoul sagte sich der Graf: »Der Schlingel kennt den Weg!« und er fragte sich, wie er den wohl herausgefunden hatte. Niemals hatte er selbst Raoul zu Christine gebracht. Er mußte annehmen, daß Raoul allein hingegangen war, während er wie gewöhnlich im Foyer mit der Sorelli plauderte, die ihn oft darum bat, ihr bis zu ihrem Auftritt Gesellschaft zu leisten, und die ihm oft tyrannisch die kleinen Gamaschen zur Aufbewahrung gab, mit denen sie aus ihrer Garderobe kam, um ihre Satinschuhe und ihr fleischfarbenes Trikot fleckenlos zu halten. Zur Entschuldigung der Sorelli läßt sich anführen, daß sie ihre Mutter verloren hatte.
Der Graf folgte, indem er seinen Pflichtbesuch bei der Sorelli einige Minuten aufschob, dem Korridor, der zu der Daaé führte, und stellte fest, daß es dort noch nie so voll gewesen war wie an diesem Abend, an dem das ganze Theater über den Erfolg der Sängerin, sowie über ihre Ohnmacht außer sich zu sein schien. Denn das schöne Wesen hatte das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt, so daß man den Theaterarzt holte, der sich inzwischen den Weg durch die Menge bahnte, während Raoul sich an seine Fersen heftete.
Dadurch trafen Arzt und Verliebter gleichzeitig bei Christine ein, der eine leistete Erste Hilfe, in den Armen des anderen schlug sie die Augen auf. Der Graf war im dichten Gedränge auf der Türschwelle stehengeblieben.
»Finden Sie nicht, Doktor, daß diese Herren die Garderobe lieber räumen sollten«, fragte Raoul mit unglaublicher Kühnheit. »Man kann ja kaum atmen.«
»Sie haben völlig recht«, pflichtete der Arzt ihm bei und setzte alle außer Raoul und der Kammerjungfer vor die Tür.
Die Kammerjungfer sperrte die Augen auf und musterte Raoul verblüfft. Sie hatte ihn noch nie gesehen.
Trotzdem wagte sie keine Fragen zu stellen.
Der Arzt nahm seinerseits an, daß ein junger Mann, der so handelte, zweifellos ein Recht dazu hatte. Also blieb der Vicomte in der Garderobe und beobachtete, wie die Daaé wieder zum Leben erwachte, während die beiden Direktoren Debienne und Poligny, die gekommen waren, um ihre Sängerin zu beglückwünschen, eingepfercht zwischen Befrackten draußen auf dem Korridor warten mußten. Der ebenfalls in den Korridor verbannte Graf brach in schallendes Gelächter aus.
»O, dieser Schlingel! Dieser Schlingel!«
Im stillen fügte er hinzu: »Hütet euch vor Jünglingen, die wie junge Mädchen aussehen!«
Er strahlte und schloß: »Ein echter Chagny!« Danach machte er sich auf den Weg zur Garderobe der Sorelli; diese kam aber gerade mit ihrer verängstigten kleinen Herde zum Foyer hinunter, und er traf sie, wie gesagt, auf der Treppe.
In der Garderobe stieß Christine Daaé einen tiefen Seufzer aus, den ein Stöhnen beantwortete. Sie drehte den Kopf zur Seite, erblickte Raoul und begann zu zittern.
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