Sie musterte den Arzt, den sie anlächelte, dann ihre Kammerjungfer, schließlich Raoul.

»Monsieur«, fragte sie letzteren mit hingehauchter Stimme, »wer sind Sie?«

»Mademoiselle«, antwortete der junge Mann, der niederkniete und der Diva einen feurigen Handkuß gab, »Mademoiselle, ich bin der kleine Junge, der Ihre Schärpe aus dem Meer gefischt hat.«

Christine sah nochmals Arzt und Kammerjungfer an, und alle drei brachen in Lachen aus. Raoul stand errötend auf.

»Mademoiselle, da es Ihnen nicht beliebt, mich wiederzuerkennen, möchte ich Ihnen etwas unter vier Augen sagen, etwas sehr Wichtiges.«

»Wenn es mir besser geht, Monsieur – einverstanden?« Ihre Stimme bebte. »Hätten Sie bitte die Güte …«

»Sie müssen jetzt gehen«, fügte der Arzt mit seinem liebenswürdigsten Lächeln hinzu. »Damit ich Mademoiselle Daaé behandeln kann.«

»Ich bin nicht krank«, rief plötzlich Christine mit ebenso befremdender, wie unerwarteter Energie.

Sie stand auf und fuhr sich rasch mit der Hand über die Lider.

»Ich danke Ihnen, Doktor! … Ich möchte jetzt allein sein … Gehen Sie jetzt bitte alle … Lassen Sie mich allein … Ich bin heute abend sehr nervös …«

Der Arzt wollte protestieren, aber angesichts der Gemütsverfassung, in der sich die junge Frau befand, hielt er es für das beste Heilmittel, ihr nicht zu widersprechen. Mit dem völlig niedergeschlagenen Raoul ging er auf den Korridor und sagte:

»Ich erkenne die sonst so Sanfte heute abend nicht wieder …«

Er verabschiedete sich von Raoul, der allein blieb.

Inzwischen hatte sich nämlich dieser Teil des Theaters geleert. Man war wohl zur Abschiedsfeier in das Foyer de la Danse gegangen. Raoul dachte, daß die Daaé ihr vielleicht auch beiwohnen würde, und wartete in der Stille und Einsamkeit. Er versteckte sich sogar im Schatten einer Türnische. Noch immer nahm jener fürchterliche Schmerz die Stelle seines Herzens ein. Darüber wollte er unverzüglich mit der Daaé reden. Plötzlich öffnete sich die Garderobe, und er sah, daß die Kammerjungfer mit ein paar Paketen herauskam. Er hielt sie an und erkundigte sich nach ihrer Herrin. Sie antwortete ihm, daß sie wieder völlig in Ordnung sei, daß er sie aber nicht stören dürfe, denn sie wolle allein sein. Und sie verschwand. Da traf Raoul ein Gedanke wie der Blitz: Offenbar wollte die Daaé seinetwegen allein sein! … Hatte er ihr nicht gesagt, daß er sie unter vier Augen sprechen wolle, und hatte sie nicht aus eben diesem Grund alle anderen weggeschickt? Mit angehaltenem Atem schlich er zu ihrer Garderobe, legte das Ohr an die Tür, um zu horchen, was sie ihm antworten würde, und machte Anstalten, zu klopfen. Da sank seine Hand wieder herab. Denn er hörte in der Garderobe eine Männerstimme, die herrisch sagte:

»Christine, du mußt mich lieben!«

Christines schmerzlich zitternde Stimme antwortete wohl unter Tränen:

»Wie können Sie das zu mir sagen? Zu mir, die ich nur für Sie singe!«

Raoul mußte sich vor Kummer an die Tür lehnen. Sein Herz, das er für immer verloren zu haben glaubte, kehrte wild hämmernd in seine Brust zurück. Der ganze Korridor widerhallte so davon, daß Raoul das Gefühl hatte, taub zu werden. Wenn das Herz sein Pochen nicht einstellte, würde man es bestimmt hören, die Tür öffnen und den jungen Mann schmachvoll wegjagen. Welche Lage für einen Chagny! An der Tür zu horchen! Er preßte beide Hände auf die Brust, um es zum Schweigen zu bringen. Aber ein Herz ist keine Hundeschnauze, und wenn man sogar einem unerträglich kläffenden Hund die Schnauze mit beiden Händen zuhält – hört man ihn immer noch knurren.

Die Männerstimme fuhr fort:

»Du mußt sehr müde sein.«

»Ach, heute abend habe ich Ihnen meine ganze Seele gegeben, und ich bin tot.«

»Deine Seele ist sehr schön, mein Kind«, sagte die Männerstimme ernst, »und ich danke dir dafür. Kein Kaiser wurde je reicher beschenkt! Heute abend haben die Engel geweint.«

Nach diesen Worten hörte der Vicomte nichts mehr.

Trotzdem ging er noch nicht, sondern versteckte sich aus Angst, ertappt zu werden, wieder in der dunklen Türnische, denn er war fest entschlossen, zu warten, bis der Mann die Garderobe verließ. Zur selben Stunde hatte er die Liebe und den Haß kennengelernt. Er wußte, daß er liebte. Er wollte wissen, wen er haßte. Zu seinem großen Erstaunen öffnete sich die Tür und Christine Daaé trat, in Pelze gehüllt, das Gesicht hinter einem Spitzenschleier, allein heraus. Sie machte die Tür zu, aber Raoul beobachtete, daß sie nicht abschloß. Sie ging an ihm vorbei. Er folgte ihr nicht einmal mit den Augen, denn die wandte er nicht von der Tür ab, die sich nicht nochmals öffnete.