Vor dem Tor erst brach sie in Tränen aus, und in einemfort weinend und schluchzend wanderte und eilte sie, mit dem seidenen Prachtkleide die Augen trocknend (denn sogar ein Taschentuch hatte sie nicht an sich genommen), durch Feld und Forst, bis sie tief in der Nacht im elterlichen Hause anlangte, mehr einer entsprungenen Zigeunerin ähnlich, als einer Braut. Sie gab den bestürzten Verwandten keine Antwort, sondern verschloß sich in ihre Kammer. Darin blieb sie mehrere Tage und erschien, als sie wieder hervortrat, in der alten Landtracht. Wo sie jenes rote Seidenkleid hingebracht, hat man nie erfahren. Einige sagen, sie habe es verbrannt, andere, es sei vergraben worden, wieder andere, sie habe es einem Juden verkauft.
Als sie eine Zeitlang zu Haus geblieben, schickte ihr die Stadtfamilie, bei der sie gewohnt, ihre Sachen zu ohne jegliche Nachricht oder Anfrage, und noch fernere Zeit verging, ohne daß der Bräutigam oder sonst jemand nach ihr fragte. Die Ihrigen wollten einen Rechtshandel mit dem Junker Drogo anheben; doch sie verwehrte es zornig, und so ist die Brautschaft der schönen Salome in nichts verlaufen und die Jungfrau noch vorhanden, wie Sie dieselbe gesehen haben, teilweise etwas klüger und besser geworden als früher, teilweise noch törichter. Ihre Lieblingslaune ist, die Männer zu verachten und mit solchen zu spielen, wie sie wähnt, während sie ihre Gesellschaft doch allem andern vorzieht. Aber ich glaube nicht, daß sie nochmals zu einer Verlobung zu bringen wäre.«
Achtes Kapitel
Regine
Als Lucia schwieg, wußte Reinhart nicht sogleich etwas zu sagen, da eine gewisse Nachdenklichkeit ihn zunächst befangen und verlegen machte. Des Fräuleins ausführliche und etwas scharfe Beredsamkeit über die Schwächen einer Nachbarin und Genossin ihres Geschlechts hatte ihn anfänglich befremdet und ein fast unweiblich kritisches Wesen befürchten lassen. Indem er sich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher gesehen, glaubte er in dieser Art mehr die Gewohnheit zu erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die Schicksale zu verstehen und jegliches bei seinem Namen zu nennen. Bedachte er dazu die Einsamkeit der Erzählerin, so wollte ihn von neuem die neugierige und warme Teilnahme ergreifen, die ihn schon zu einer unzeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von dem törichten Küssen und Kosen in so überlegen heiterer Weise und mit einem Anfluge verächtlichen Spootes erzählte, war er geneigt, das als eine strafende Anspielung auf die Torheit zu empfinden, mit der er selbst heute ausgezogen war. Solchen Angriff von sich abzuwehren, schritt er zum Widerspruche und sogar zu einer Art Schutzrede für die verunglückte Salome, indem er begann:
»Die stolze Resignation, zu welcher sie so unerwartet gelangte, scheint mir fast zu beweisen, daß auch Vorzüge, die nur in der Einbildung vorhanden sind, wenn sie beleidigt oder in Frage gestellt werden, die gleiche Wirkung zu tun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugenden, so daß z.B. die Torheit, wenn ihre eingebildete Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber zuletzt wahrhaft weise und zurückhaltend werden kann. Übrigens ist es doch schade, daß die arme Schöne nicht einen Mann hat!«
»Sie ist nun zwischen Stuhl und Bank gefallen«, erwiderte Lucia; »denn mit den Herren war es nichts und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch hätte sie einen Mann ihres Standes sogar noch beglücken können, der bei gleichen Geisteskräften und täglich harter Arbeit ihrer Unklugheit nicht so innegeworden wäre und vielleicht ein köstliches Kleinod in ihr gefunden hätte.«
»Gewiß«, sagte Reinhart, »mußte es irgendeinen Mann für sie geben, dem sie selbst mit ihren Fehlern wert war; doch scheint mir die Gleichheit des Standes und des Geistes nicht gerade das Unentbehrlichste zu sein. Eher glaube ich, daß ein derartiges Wesen sich noch am vorteilhaftesten in der Nähe eines ihm wirklich überlegenen und verständigen Mannes befinden würde, ja sogar, daß ein solcher bei gehöriger Muße seine Freude daran finden könnte, mit Geduld und Geschicklichkeit das Reis einer so schönen Rebe an den Stab zu binden und geradezuziehen.«
»Edler Gärtner!« ließ sich hier Lucia vernehmen; »aber die Schönheit geben Sie also nicht so leicht preis wie den Verstand?«
»Die Schönheit?« sagte er; »das ist nicht das richtige Wort, das hier zu brauchen ist. Was ich als die erste und letzte Hauptsache in den bewußten Angelegenheiten betrachte, ist ein gründliches persönliches Wohlgefallen, nämlich daß das Gesicht des einen dem andern ausnehmend gut gefalle. Findet dieses Phänomen statt, so kann man Berge versetzen, und jedes Verhältnis wird dadurch möglich gemacht.«
»Diese Entdeckung«, versetzte Lucia, »scheint nicht übel, aber nicht ganz neu zu sein und ungefähr zu besagen, daß ein wenig Verliebtheit beim Abschluß eines Ehebündnisses nicht gerade etwas schade!«
Durch diesen Spott wurde Reinhart von neuem zur Unbotmäßigkeit aufgestachelt, so daß er fortfuhr: »Ihre Mutmaßung ist sogar richtiger, als Sie im Augenblick zu ahnen belieben; dennoch erreicht sie nicht ganz die Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft das einseitige Wirken der Einbildungskraft, irgendeine Täuschung, ja es sind schon Leute verliebt gewesen, ohne den Gegenstand der Neigung gesehen zu haben. Was ich hingegen meine, muß gerade gesehen und kann nicht durch die Einbildungskraft verschönert werden, sondern muß dieselbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es schon jahrelang täglich und stündlich gesehen haben, so soll es bei jedem Anblick wieder neu erscheinen, kurz, das Gesicht ist das Aushängeschild des körperlichen wie des geistigen Menschen; es kann auf die Länge doch nicht trügen, wird schließlich immer wieder gefallen und, wenn auch mit Sturm und Not, ein Paar zusammenhalten.«
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Lucia abermals, »aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demselben Fleck herumdrehen?«
»So wollen wir aus dem Kreise herausspringen und der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es denn nicht jederzeit gescheite, hübsche und dabei anspruchsvolle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem Manne verbunden waren, der von diesen Vorzügen nur das Gegenteil aufweisen konnte, und haben nicht solche Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit solchen Männern gelebt und sich vor der Welt sogar einen Ruhm daraus gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgendein den andern verborgener Zug ihre Sympathie erregte und ihre Anhänglichkeit nährte, so war diese doch eine Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer stehen sollen als die Frauen! Im Gegenteil, ich behaupte: ein kluger und wahrhaft gebildeter Mann kann erst recht ein Weib heiraten und ihr gut sein, ohne zu sehen, wo sie herkommt und was sie ist; das Gebiet seiner Wahl umfaßt alle Stände und Lebensarten, alle Temperamente und Einrichtungen, nur über eines kann er nicht hinauskommen, ohne zu fehlen: das Gesicht muß ihm gefallen und hernach abermals gefallen. Dann aber ist er der Sache Meister, und er kann aus ihr machen, was er will!«
»Dem Anscheine nach haben Sie immer noch nichts Außerordentliches gesagt«, versetzte Lucia; »doch fange ich an zu merken, daß es sich um gewisse kennerhafte Sachlichkeiten handelt; das gefallende Gesicht wird zum Merkmal des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die Veredlungsfähigkeit der Ware prüft, oder ist's nicht so?«
»Ein Gran dieser böswilligen Auslegung könnte mit der Wahrheit in gehöriger Entfernung zusammentreffen; und was kann es dem einem oder dem andern Teile schaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um so längere Dauer verspricht?«
»Die Dauer des glatten Gesichtes, das der Herr Kenner sich so vorsichtig gewählt hat?«
»Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grausame Gebieterin und Gastherrin! Von Vorsicht ist ja von vornherein keine Rede in diesen Dingen.«
»Ich glaub es in der Tat auch nicht, zumal wenn Sie, wie zu erwarten steht, sich eine Magd aus der Küche holen werden.«
»Was mir beschieden ist, weiß ich nicht; ich geharre demütig meines Schicksals. Doch habe ich den Fall erlebt, daß ein angesehener und sehr gebildeter junger Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und so lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis sie richtig zur ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erst das Unheil eintraf.«
»Das würde ja gerade gegen Ihre orientalischen Anschauungen zeugen!«
»Es scheint allerdings so, ist aber doch nicht der Fall, abgesehen von dem abscheulichen Titel, mit dem Sie meine harmlose Philosophie bezeichnen!«
»Und ist Ihre Geschichte ein Geheimnis, oder darf man dieselbe vernehmen?«
»So gut ich vermag, will ich sie gern aus der Erinnerung zusammenlesen mit allen Umständen, die mir noch gegenwärtig sind, wobei ich Sie bitten muß, das Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten selbst innewohnt, wenn sie wiedererzählt werden, mit gläubiger Nachsicht zu beurteilen!«
Da die zwei spinnenden Mädchen die Räder anhielten und ihre vier Äuglein neugierig auf den Erzähler richteten, sagte Lucia zu ihnen: »Fahrt nur fort zu spinnen, ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren verlockt und unterstützt, den Faden seiner Erzählung um so weniger verliert! Ihr könnt euch die Lehre, die sich ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis in die Küchen spannen!«
Reinhart begann somit, da die Rädchen wieder surrten, folgendes zu erzählen:
»In Boston lebt eine Familie deutscher Abkunft, deren Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nordamerika ausgewandert sind. Die Nachkommen bilden ein altangesehenes Haus, wie wenige in der ewigen Flut der Bewegung sich erhalten; und selbst das Haus im wörtlichen Sinne, Wohnung und Geräte, sollen bereits einen Anstrich altvornehmen Herkommens aufweisen, insofern während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt erwachsen kann. Die deutsche Sprache erlosch niemals unter den Hausgenossen; insbesondere einer der letzten Söhne, Erwin Altenauer, hing so warm an allen geistigen Überlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er dem Verlangen nicht widerstand, das Urland selbst wieder kennenzulernen, und zwar um die Zeit, da er sich schon dem dreißigsten Lebensjahre näherte.
Er entschloß sich also, nach der alten Welt und Deutschland auf längere Zeit herüberzukommen; weil er aber, bei einigem Selbstbewußtsein, sich in bestimmter Gestalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen wünschte, bewarb er sich in Washington um die erste Sekretärstelle bei einer Gesandtschaft, deren Sitz in einer der größeren Hauptstädte war. Mit nicht geringer Erwartung segelte er anher, vorzüglich auch auf das schönere Geschlecht in den deutschen Bundesstaaten begierig; denn wenn wir germanischen Männer uns mit Eifer den Ruf ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, so versahen wir wiederum unsere Frauen mit dem Ruhm einer merkwürdigen Gemütstiefe und reicher Herzensbildung, was in der Ferne gar lieblich und Sehnsucht erweckend funkelt, gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem Glanze dieses Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies von seinen Verwandten scherzweise ermahnt worden, eine recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ozean zurückzubringen.
Er fühlte sich auch bald so heimisch, wie wenn sein Vater schon ein Jenenser Student gewesen wäre; doch begab sich das nur in der Männerwelt, und sobald die Gesellschaft sich aus beiden Geschlechtern mischte, haperte das Ding. Sei es nun, daß, wie in sonst gesegneten Weinbergen es gewisse Schattenstellen gibt, wo die Trauben nicht ganz so süß werden wie an der Sonnenseite, er in eine etwas ungünstig Gegend geraten war, oder sei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die rechte Traubenkenntnis mitgebracht, genug, es schienen ihm zusammengesetzte Gebräuche zu walten, die zu entwirren er sich nicht ermuntert fand. Erwin sowohl wie die übrigen Gesandtschaftsglieder waren von einfachen Sitten, klar und bestimmt in ihren Worten und ohne Umschweife. Sie stellten noch die ältere echte Art amerikanischen Wesens dar und gingen den geraden Weg, ohne um die hundert kleinen Hinterhalte und Absichtlichkeiten sich zu kümmern oder sie auch nur zu bemerken; sie ließen es bei ja und nein bewenden und sagten nicht gern eine Sache zweimal.
Nun erstaunte Erwin, von dieser oder jener Dame sich plötzlich den Rücken zugewendet zu sehen, wenn er auf eine Frage oder Behauptung nach seinem besten Wissen ein einfaches Ja oder Nein erwidert hatte; noch weniger konnte er sich erklären, warum eine andere das selbst begonnene Gespräch nach zwei Minuten abbrach in dem Augenblicke, wo er demselben durch eine ehrliche Einwendung festern Halt gab; unbegreiflich erschien ihm eine dritte, die wiederholt seine Vorstellung verlangt, ihn dann nach dem Klima seiner Heimat befragt und ohne die Antwort abzuwarten, mit andern ein neues Gespräch eröffnete.
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