Das Tagebuch der Anne Frank
Das Tagebuch der Anne Frank
12. Juni 1942
bis
1. August 1944
Mit einer Einführung von Marie Baum Einführung
Zwei voneinander unabhängige Linien verschlingen sich mit seltener Lebendigkeit in diesem document humain: das erschütternde Schicksal einer »untergetauchten« Familie und das Seelenleben eines begabten Kindes. Wir würden kaum von der ungeheuerlichen, beklemmenden, angsterfüllten Lage der Verfolgten ein derart scharf umrissenes, zugleich bis ins Innerste dringendes Bild erhalten, spiegelte sie sich nicht in den Erlebnissen dieses Kindes; und dessen Entwicklung wiederum wird durch das vom Schicksal ihm und den Seinen auferlegte Leid fast gewaltsam beschleunigt, so daß es vor unsern Augen in zwei kurzen Jahren zum Menschen heranreift.
Noch einmal senkt sich die unsühnbare Schuld der Judenverfolgung als fürchterliche Last auf uns. Wir zittern mit den armen Eingeschlossenen, die, um dem Zugriff der Häscher zu entgehen, in das von großmütigen holländischen Freunden angebotene Versteck »untertauchen«. Wir atmen mit ihnen die gefängnishafte Luft des Hinterhauses an der Prinsengracht in Amsterdam, das sie nie verlassen dürfen, fühlen mit ihnen die täglichen Entbehrungen, den nagenden Hunger, die Nervenbelastung, wie sie acht Leidensgenossen in täglicher allzuenger Berührung unter Aufregungen, Angst und Sorgen füreinander bedeuten, und erfahren schließlich, daß das alles umsonst gewesen ist. Auch in ihr Hinterhaus haben die Häscher schließlich den Weg gefunden, nur der Vater ist zurückgekehrt, auch Anne, die Jüngste, deren Aufzeichnungen uns vorliegen, hat den frühen schrecklichen Tod gefunden.
Sinnt man Lebensläufen nach, so zwingt sich oft die Erkenntnis auf, daß sie durch die Dauer der ihnen vom Schicksal zugemessenen Lebensspanne bedingt seien. Die einen schwingen viele Jahrzehnte hindurch geruhig in langen Rhythmen, während man an anderen die Hast, in kurzer Zeit die Ernte des Lebens einbringen zu müssen, deutlich spürt. Anne Frank scheint diesen zuzuzählen zu sein. Ihre Frühreife ist zuweilen beängstigend; und ganz ungewöhnlich bei einem so jungen Mädchen die Fähigkeit, das eigene leidenschaftliche Erleben mit dem Verstande zu beobachten und zu zergliedern, zugleich aber mit dem Willen unter die Forderung inneren Wachstums zu stellen.
Anne Frank entstammt einer gebildeten, wohlhabenden deutschen Familie, die im Jahre 1933 vor den einsetzenden Judenverfolgungen floh, um dann von 1940 an die gleichen Angriffe in dem neugewonnenen Asyl, Holland, zu erleben. Kurz vor dem durch die Verhältnisse aufgezwungenen »Untertauchen« beginnt die damals dreizehnjährige Anne, Eintragungen in ihr Tagebuch zu machen. In die zunächst unbefangene Lebensfreude und kindlichen Übermut zeigenden Bemerkungen mischt sich schon früh ein auffallendes Wort, so wenn sie vor dem »Untertauchen« ihr Köfferchen packt und erzählt, es beinhalte zum Teil »unsinniges Zeug. Aber es tut mir nicht leid. Erinnerungen sind mehr wert als Kleider.« Und ganz ungewöhnlich ist von Anbeginn an die anschauliche Art, in der sie die neue Umgebung und die darin lebenden Menschen zu beschreiben vermag. Die exakten Schilderungen finden ihre Ergänzung durch Ausbrüche der Verzweiflung: »Ich sehe uns acht hier im Hinterhaus, als wären wir auf einem lichten Stück blauen Himmels inmitten schwerer, dunkler Regenwolken. Noch ist unser Platz sicher, aber die Wolken werden immer dichter und der Ring, der uns noch von der nahenden Gefahr trennt, immer enger. Schließlich sind wir so eingehüllt von der Dunkelheit, daß wir in dem verzweifelten Wunsch, uns befreien zu wollen, aneinandergeraten.
Wir sehen unten, wie die Menschen gegeneinander kämpfen, und blicken hinauf, wo Glück und Ruhe ist. Wir aber sind abgeschnitten durch die dicke, undurchdringliche Schicht, die uns den Weg dahin versperrt und uns umgibt wie eine unüberwindliche Wand, die uns zerschmettern wird, wenn es an der Zeit ist. Und ich kann nur rufen und flehen: ›O Ring, Ring, werde weiter und öffne dich für uns!‹«
Vom Juli 1942 bis zum August 1944 bewohnten sie ihr Asyl. Diese Zeit umfaßt Annes Entwicklungsjahre, die, für jedes junge Leben von Bedeutung, es hier bei einem Kinde von dieser Veranlagung und unter diesen Umständen in besonderer Weise werden. Kitty, die vorgebliche Empfängerin der Tagebuchbriefe, soll ihr die Freundin ersetzen, die sie trotz eines reichen Kreises von Bekannten, Verehrern und Kameradinnen auch in der Freiheit nicht gefunden hatte. Später unter den Leidensgenossen begegnet ihr zwar ein zweiter »Peter« - dem ersten dieses Namens galt eine Kinderschwärmerei, die sich ihr tief eingeprägt hatte -, aber der gute, etwas schwerfällige Junge kommt nur einem Teil ihres lebhaften und vielschichtigen Innenlebens entgegen. Die um drei Jahre ältere Schwester liebt sie, ohne ihr doch wirklich nahe zu sein. Das Verhältnis zu den Eltern, früher sehr innig, lockert sich mit der Zeit. Die tiefe Liebe zum Vater schimmert zwar bei allen zeitweiligen Abwendungen und Ablenkungen immer durch, aber die Lösung von der Mutter, das bekannte Problem der Übergangszeit vollzieht sich mit aller Entschiedenheit. Die übrigen Hausgenossen bilden den Gegenstand mancher Reibungen, wenn auch zugleich humoristischer Bemerkungen und Schilderungen. Im ganzen steht das Kind allein mit einer Fülle es bedrängender Fragen und Gedanken. Da sie aber warmherzig, lebhaft, aufgeschlossen, hilfsbereit und humorvoll ist, stellt sie nach außen eine Anne dar, die der nach innen zugewandten, nach Reinheit, Wahrheit, Helle strebenden, als ein fremd empfundenes zweites Ich gegenübersteht. Auch dieses ist wohl an sich ein typisches Erleben, wird aber hier von der Tiefe heraus besonders scharf beleuchtet. Zuweilen bricht ihr schwer zu zügelndes Temperament durch und ruft Unwillen und Tadel hervor.
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