Ein spitzbogiges Fenster. Langsames Ticken des
Uhrwerks wandelt durch Raum und Mauern.
Grete sitzt auf der Schwelle zum Dachraum,
Boll steigt schweratmend von unten
herauf.
Grete: Sind Sie wer?
Boll: Niemand – nie Jemand
gewesen – Keiner!
Grete: Ob Sie wer sind und haben
hier zu sagen?
Boll (zeigt zum
Fenster): Er steht da unten und sieht sich alle Ecken an,
bloß hier rauf guckt er nicht, kommt gar nicht auf so'n
Gedanken, Ihr Mann – haben Sie Kinder?
Grete (kriecht
noch mehr in sich zusammen).
Pause.
Grete (murrend): Alles erstickt im Fleisch, Sie auch
– in Fleisch.
Boll: Lassen wir das Fleisch, weg
mit Fleisch – sehn Sie mal, Frau, abseits von meinem Fleisch
bin ich noch sonst was, so was wie aufgetürmt, turmhaftig, was
ganz gehörig Anderes.
Grete: Haben Sie hier zu sagen,
gehören Sie hierher?
Boll: Ich bleibe, wo mirs gut geht,
hier ist mir wohl und hier bleibe ich.
Grete: Soll ich wieder runter?
Boll: So lange Ihnen wohl ist,
bleiben Sie auch hier.
26
Grete: Wo soll ich auch hingehen!
Boll: Wenn Sie Kinder haben, warum
gehen Sie nicht zu Ihren Kindern – Fleisch zu Fleisch, Turm
zu Turm – ich bleibe.
Grete (steht
auf).
Boll: Ihr Mann steht noch unten und
wird Sie schlagen.
Grete: Das hat er nie getan, wird
auch nie, bin nicht bange vor ihm – aber er wird mich zu den
Kindern bringen.
Boll: Und wenn das schadet –
wem schadet das?
Grete: Die armen Seelen . . .
Boll: Ja, ja, – sagen Sie's
nur.
Grete: Die armen Seelen wimmern und
schreien zu mir, soll sie auslassen – und bitten, bitten tun
sie immerfort, wollen raus und jammern, daß sie durch mich im
Elend sind – Elend heißt es.
Boll: Die armen Seelen wimmern?
Grete: Sie rufen, sie schreien und
grade, wenn alles schläft, hör' ichs in der Dunkelheit am
hellsten.
Boll: Und haben sie was,
worüber sich schreien läßt?
Grete (monoton): Die armen Seelen schreien, das wachsende
Fleisch verstopft ihre Stimmen, aber immer noch quälen die
armen Seelen, daß ich sie vom Fleisch erlöse.
Boll: Wie viele sinds zusammen?
Grete: Drei Seelen hab ich ins
verfluchte Fleisch gebracht.
Boll: Ich bin auch so eine arme
Seele.
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Grete: Ich weiß wohl, aber zu was
reden Sie das vom Turm?
Boll: Mir wird wohler, wenn ich
lüge – sehen Sie, mit Lügen straf ich mein Fleisch,
mit Lügen säble ich mich in tausend Stücke und werf
die Fetzen vor die Hunde – und nun, kaum fallen die Hunde
über die tausend Fetzen, da zuckt ein Blitz, und ruckt was hin
und ruckt was her und so ists wieder ganz. Die Luft hats in sich,
die Luft holts her, die Luft gibts heraus – bin ichs wieder
oder bin ichs nicht mehr oder bin ichs überhaupt gewesen? Mein
Blut ist rot, aber blau steht es mir zu Gesicht. Wer sind Sie
denn?
Grete: Zu Haus auf dem Dorfe
heißen sie mich die Hexe – weiß nicht warum. Ich
denk mir was und solls denn mal gestorben sein, so ist es wohl
nichts Schlimmeres als leben.
Boll: Und ich habe immer gut gelebt
und muß nach einer verdammt strammen Ordnung schlimm sterben.
Ich wollt, ich bekäm bei Kleinem was Lust zu sterben. So aber,
weil ich bin wie ich bin, muß ich mich fürchten –
und wart ungern aufs Sterben.
Grete: Wer nicht mehr im Fleisch
ist, der ist im Glück – und ich muß meine Kinder
vom Fleisch erlösen.
Boll (sieht sie
laut atmend an, kehrt sich zum Fenster und wirft einen Blick
hinaus. Dann kommt er zögernd und unsicher näher, greift
in die Brusttasche und holt die Zigarrentasche heraus, schiebt sie
aber sogleich zurück – scheint dann die Arme
ausstreckend auf Grete zu stürzen. Sie stemmt die 28 Hände gegen seine
Brust und hält ihn zurück): Würgen Sie mich
nicht, es gibt sich schon – drückte mich was zu Boden,
oder was gabs, da mußt ich mich an Sie halten. (Er geht zurück und lehnt sich an die
Mauer.)
Grete: Ob ich wen hol'?
Boll (winkt ab
und schließt die Augen).
Grete: Wär' schon gut zu
Bett.
Boll (reißt die Augen weit auf): Ich stehe, wozu hab
ich meine langen Beine. Will nicht liegen, aber halten Sie mich
einen Augenblick fest (Grete stützt
ihn). Tut gut, daß Sie mich anrühren, das
wußt ich ja, darum tastete ich mich heran, als mir schwarz vor
den Augen wurde (wieder gefaßt).
Kann mal das liebe Fleisch nicht lassen. (Nachdenkend) Wie war denn das? Stieß ich mit
der Nase beim Kreuzweg an die Ecke, stieß an und verlor einen
Augenblick die Richtung, was konfus geworden? Na, es ging noch gut
und so bin ich wieder auf der wohlbekannten Straße.
Uhrmacher Virgin kommt auf der Treppe von oben
herab.
Virgin: Mein Gott – seh ich
recht – Herr Boll?
Grete (läßt Boll los, bleibt aber nahebei
stehen).
Boll: Nicht, daß ich
wüßte. (Zu Grete.) Was
für ein aufgeregter Herr das ist.
Virgin: Mein Name ist Virgin
– Uhrmacher Virgin.
Boll: Ein auffallend schöner
Name.
Virgin: So schön, wenn nicht
schöner als Ihrer, Herr Boll.
Boll: Boll? Da müssen Sie
anderwo fragen, ob so einer hier bekannt ist.
29
Virgin: Also nicht – Sie
müssens ja wissen. Bitte übrigens um Entschuldigung,
daß ich Sie mit dem Herrn verwechsele, es ist nicht grade
schmeichelhaft.
Boll: Und was ist das für ein
Herr, dieser Herr Boll, wenn ich fragen darf?
Virgin: Ich glaube, er hält
sich selbst für eine Art von Unübertrefflichkeit in jedem
Sinne, der Herr Boll.
Boll: Also offenbar ein
beneidenswerter Mann.
Virgin: Dies vermaledeite Fuhrwerk
von Turmuhr hatte wieder mal einen Ramm – also ich da oben
und mit meiner Zeit umgegangen, wie Boll – Herr Boll mit
seiner . . .
Boll: Dieser Herr Boll?
Virgin: Ja, derselbe, denn wie kann
ein Mann wie der ehrenvoller dastehen als indem er seine Zeit
veraast? Sprech ich nicht zu leise? Ich bin etwas engbrüstig
und so die Treppen rauf und rab – wissen Sie –
verstehen Sie was ich meine?
Boll: Keine Sorge.
Virgin: Ja, was ich noch
erzählen wollte . . .
Boll: Doch wieder von Boll
hoffentlich!
Virgin: Natürlich, aber das
haben Sie vielleicht schon sonstwo gehört, das mit Boll und
dem Grafen Ravenklau?
Boll: Ravenklau –
Ravenklau?
Virgin: Graf von und zu Ravenklau,
wissen Sie, der Patron unserer neuen apostolischen Gemeinde –
ich gehöre auch dazu, darum . . .
30
Boll: Ich verstehe.
Virgin: Also der Graf hatte
mehrmals öffentlich gesprochen, leider nicht, ohne dadurch zu
allerhand Übelwollen Antrieb zu geben.
Boll: Mir schwant sowas: man hat
mehr über ihn geredet als die ganze gräfliche Rederei
wert war.
Virgin (stutzt): Hm – ja, wie Sie wollen. Boll vor
allem, Boll hatte, wie er sich rühmte, das apostolische Nest
eingeschwefelt und – erlauben Sie – diesem
hochgeborenen, guten alten Herrn herzlich wehgetan. Nun, was
geschieht?
Boll: Bin wirklich sehr
gespannt.
Virgin (gestikulierend): Hören Sie bloß: beim
vorjährigen Reitturnier in unserer Stadt, nach dem ersten
Rennen, kommt Herr Boll von drüben quer über den Rasen
auf die Tribüne losspaziert, was sich ja bloß Boll
herausnehmen kann. Sehen Sie – so! Fährt daher,
gemästet von Selbstachtung, frisch aus der eigenen
Weihräucherei und allein für sich ein Triumphzug. Die
Sonne prallt von seinem Gesicht ab und seine Beine – jeder
Tritt eine Welterschütterung, pompös! Da will es nun das
Schicksal, daß Graf Ravenklau genötigt ist, denselben Weg
ihm entgegen zu machen.
Boll: Hatte vermutlich drüben
zu tun?
Virgin: Natürlich – sie
gehen aufeinander zu und die Tribüne hält den Atem an.
Der Graf, schwachsichtig wie er ist, findet sich ganz wenige
Schritte vor Boll, als 31 er ihn wahrnimmt, und dreht um, kehrt den
Rücken, strebt wieder zu Platz – ja, so wars.
Boll: Ich finde es einstweilen
nicht aufregend, Herr Virgin.
Virgin: Aber Boll, verehrter Herr,
was blieb Boll zu tun übrig – durfte er, um seinen Weg
zu vollenden, dem Grafen folgen, und so, öffentlich
geschnitten, drei Schritte hinterdrein, folgsam und artig –
folgsam, Herr – gleichsam in kuschender Haltung und Gangart
so den Grafen geleiten? Er tat es –
aber . . .
Boll: Nun?
Virgin: Aber wie, Herr, wie! Die
Sonne, die bisher auf seinem Gesicht brannte, fröstelte, die
Pracht seiner Mienen zersetzte sich, Bolls Gesicht, die
aufgequollene Blüte des Festes, lief an und tauchte in
Schatten, Tinte und Scham. Er nahm es hin, Herr, was sagen Sie
dazu?
Boll: Sagen? Ich hätte
gewünscht, es selbst von der Tribüne mit ansehen zu
können.
Virgin: Sie hätten ein blaues
Wunder erlebt.
Boll: Ich wundere mich nicht so
sehr wie Sie, daß Boll es hinnahm – vielleicht ist er
doch nicht so gemästet von Selbstachtung wie Sie meinen
– aber er nahm es hin! Der alte Herr hatte der apostolischen
Gemeinde gewiß recht probate Winke gegeben?
Virgin: Winke, verehrter Herr? Er
hatte davon gesprochen, daß der Mensch wird, nicht ist, das
hatte er erörtert, das nennen Sie Winke? Unser Sein, hatte er
gesagt, ist nichts als eine Quelle, aber unser Leben ein 32 Strom des Werdens, und
kein Ziel als immer neues Werden. Das hatte er gesagt –
ewiges Werden! Heute ist nur ein schäbiges Morgen, morgen ist
abgetan von übermorgen. Von so was ist Ihnen doch wohl –
ja, doch wohl niemals das Geringste zu Ohren gekommen?
Boll: Mir? Ich denke wir sprechen
von Boll?
Virgin: Gesetz, Zwang,
Unentrinnbarkeit – ja, ich muß nun wirklich gehen, Herr
Boll.
Boll: Grüßen Sie Herrn
Boll von mir, wenn Sie ihn sehen und er soll mich mal besuchen,
dann werde ich ihm die Sache von morgen und übermorgen
plausibel machen – fallen Sie nicht beim Absteigen.
Virgin (zögert): Wie lange, wenn ich fragen darf,
beabsichtigen Sie, den Turm zu besichtigen – ich frage
nur.
Boll: Sie können mir den
Schlüssel da lassen, er wird Ihnen demnächst wieder
zugestellt.
Virgin (gibt
den Schlüssel): Recht so, Herr Boll. (Zu Grete): Was machen Sie denn hier?
Grete (sieht
verlegen in eine Ecke).
Boll: Es erübrigt sich, Herr
Virgin.
Virgin: Ja, Herr Boll, wenn Sie
für die Frau aufkommen . . .
Boll: Schon gut, ich komme auf, ich
übernehme alle Verantwortung.
Virgin: So bin ich zufrieden
(klettert abwärts).
Boll: Er hat seinen Katechismus
brav gelernt – wie hieß es noch: ewiges Werden? Sehr
hübsch, das erinnert mich daran, mit wie einfachen
Instrumenten als zum 33 Beispiel mit einer Mundharmonika man ganz
leidliche Musik macht – ja, da stehen wir nun, nicht mal
setzen kann man sich – wollen ein bißchen ausschauen
(sieht aus dem Fenster). Gott, also dies
Sternberg, ein Gerümpel, eine Handvoll! Da gehts rechtsherum
zu Grotappel, grade hier unten, daß man drauf spucken kann,
das Dach der goldenen Kugel – aha – und hier: Monsieur
Virgin, da sieh, Kind, da schiebt sich was Schwärzliches
übern Markt, von der engen Brust ist nichts zu sehen, aber den
gebogenen Rücken erkennt man . . .
Grete (legt
plötzlich die Arme um seinen Hals).
Boll: He, he, was ist das, was hast
du?
Grete: Sind Sie nicht doch Herr
Boll?
Boll: Hast du daran gezweifelt?
Grete: Ich will Herrn Boll um was
bitten.
Boll: Bitten? Herrlich, Kind,
bitte!
Grete: Herr Boll kann es schaffen,
er kann es, er muß es.
Boll: Schaffen – ja, was ich
kann, schaffe ich. Was solls denn sein?
Grete (hält ihn noch immer fest, leise): Das, was man
braucht . . . Die Leute sagen dazu Gift.
Boll: Gift – doch nicht
für die Kinder?
Grete (nickt
und antwortet in ersticktem Ton etwas
Unverständliches).
Boll (sucht
sich loszumachen): Damit – damit deine Kinder sterben
können, soll ich . . .
Grete: Sie müssen!
(Drängt sich fest an ihn.)
34
Boll: Hast du dir das klargemacht?
Grete: Sie müssen!
Boll: Oho – Boll
muß?
Grete: Ja, Sie müssen es tun,
daß es ohne Jammern abgeht, ohne Quälerei – und
– (sie drängt näher) es
muß vorbei sein, ehe ich zur Tür hinaus bin.
Boll: Ich versteh schon, ein paar
weiße Krümel oder was zum Löffeln.
Grete: Nur schnell, daß es
geht.
Boll (sucht
sich zu lösen): Ich will überlegen, Kind, sei
zufrieden, daß ich verspreche, daran zu denken.
Grete (hält fest): Versprechen sollen Sie und tun, an
denken ist nicht nötig.
Boll: Wie kann ich versprechen,
wenn ich nicht mal weiß, an wen man sich da wendet – und
wie soll ich das sagen, mit was für Verdrehung verlang ich das
bloß?
Grete: Herr Boll hat versprochen
und zugesagt, daß er es schaffen will.
Boll: Nun sage mir eins: was wirst
du tun, wenn du dann zur Tür hinaus bist und es ist
vollbracht?
Grete (läßt ihn los, sieht ihn erstaunt und
ungläubig an): Ich – ich – ich?
(stammelnd) Wenn Alles vollbracht
ist?
Boll: Na ja, du mußt doch
gewärtig sein, daß du angeklagt wirst.
Grete: Wenn Alles vollbracht ist!
(Schlingt die Arme um seinen Hals,
schluchzend): Ich will nichts mehr tun als danken,
danken.
Boll: Na, soweit sind wir doch noch
nicht.
35
Grete: Doch, nun ist es so gut wie
geschehen: Alles vollbracht! Bis zum Abend können Sie es
schaffen.
Boll: Hör mal, Kind –
wie heißt du eigentlich mit Vornamen?
Grete: Ich bin Grete.
Boll: Also, liebe Hexe Grete, wie
soll es aber danach mit mir auskommen, hast du daran gedacht
– schließlich bin ich auch dabei gewesen.
Grete (läßt ihn los, geht langsam zur Treppe):
Du? Du hast dich von dem Grafen beschimpfen lassen, geh und spazier
weiter mit deiner Unehre. Du taugst nicht – Boll muß,
sagst du, aber du sagst es bloß.
Boll (hält
sie zurück): Und wenn ich doch bring was du
brauchst?
Grete: Daß es vollbracht
werden kann?
Boll: Leicht und schnell und sicher
vollbracht werden, alles vollbracht!
Grete (sieht
ihn halblächelnd an, legt ihre Hände leicht auf
seine): Bring es heute Abend!
Boll: Hast du mich dafür lieb,
wenn ichs tue?
Grete: Ja, wenn du es getan hast,
bis heute Abend getan – ja, dafür – ja dann!
Boll: Heute Abend . . .
Grete (zitternd): Wo?
Boll: Nach Dunkelwerden in der
Domstraße.
Grete: Nach Dunkelwerden, ohne Fehl
nach Dunkelwerden in der Domstraße.
36
Boll: Da finden wir uns.
Grete: Dann hast du es.
Boll: Hoffentlich hab ichs bis
dahin.
Grete: Bis dahin hat er es!
37
Drittes Bild
39 Straße.
Holtfreter mit mehreren Bürgern.
Holtfreter: .
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