(Zu Grüntal:) Aber Mensch, was denken Sie sich eigentlich! Respekt hin, Respekt her, vor Ihrer Unverfrorenheit kann man beinah selbst welchen kriegen, wie kommen Sie da bloß bei? Findest du nicht auch, Martha, daß einem so was wie Respekt anwächst?

Frau Boll: Darauf kann meine Antwort wohl nur keine Antwort sein, Kurt. Wenn ich mich auch für dich mit schäme, so tu ichs im stillen und halte meinen Stolz an, daß er mir darin beisteht. Eben weil ich stolz genug bin, um es für dich mit zu sein, siehst du, bring ich es fertig und schäme mich schweigend, nicht?

Boll: Aber, Martha, was für schnaufende Ursachen bewölken deinen Himmel. (Zum Bürgermeister:) Bin ich schon so ein anderer, daß ich meine Frau nicht wieder erkenne? Stolz und schweigend!

Bürgermeister: Dennoch und wie es auch sei, sind die Ursachen Ihrer Frau zum Stolz und schweigendem Verhalten . . .

Boll: Aber der Mann ist ja eine ganz ehrliche Haut, Herr Bürgermeister, oder kurz: er ist im Recht. Natürlich kann meine Frau nichts dafür, daß er im Recht ist – nein, Martha, laß das mit der Unterlippe, tu das nicht – du hast Stolz und Schweigen aufgeboten und besseres gibt es nicht, hast also wieder Recht gehabt, wie immer.

Bürgermeister: Somit hat dieses unerquickliche 47 Intermezzo also seinen Abschluß gefunden – gnädige Frau, hiermit gebe ich Ihnen den Ihnen ergebenen und zugehörigen Mann zurück. (Zu Boll:) Im übrigen handelt sichs wohl um eine reine Privatsache, wie ich doch richtig erkenne?

Boll: Ganz und gar, Herr Bürgermeister.

Bürgermeister: Also – gnädige Frau!

Boll (zu Grüntal): Stehen Sie immer noch da? Wir sind doch quitt! Sie haben Recht, ich wills Ihnen schriftlich geben und mit Ihrem Recht in der Tasche können Sie abschwimmen.

Grüntal: Wo Sie mich denn so reich beschenkt haben, will ich nich gern mit Undank abfahren, Herr, darum legen Sie in Gutem den kleinen Rest dazu.

Boll: Wenn ich nachdenke, ist mir, als hieße Ihre Frau Grete – oder nicht?

Grüntal: Da ist nichts bei zu ändern. Grete heißt sie und Grete hieß sie schon immer. Und Grete hat schon manchmal so'ne Touren gehabt – is aber immer noch wieder besser geworden. Der Dokter sagt: hat nix zu sagen, sagt er. Nachher is sie ganz hübsch mucksch, aber denn, denn kommt bei uns die gute Zeit, denn is Grete die lustigste Frau von der Welt.

Boll: Wissen Sie, daß Sie nicht der Einzige sind? Ach Gott, was denken Sie – haben alle irgend so'n Zaum ins Maul gesteckt, da dürfen wir auf kauen und das haben wir umsonst – aber der Zaum, dabei bleibts.

Grüntal: Ja, Herr Boll, mit Ihnen kann man sich 48 allerhand erzählen, und mit dem Zaum, das kann auch so raus kommen. Und wenn die ganze Straße rund herum sich auf den Kopf stellen will, so nehm ich mir den Zaum aus dem Mund und leg'n Ihnen ins Gebiß. Da können Sie nu auf kauen und das haben Sie umsonst dabei – aber das is die Verantwortung für Grete, wo Sie auf beißen, da kommen Sie nich von ab.

Boll: Verantwortung? Das paßt mir im Moment ganz schlecht – muß das sein?

Grüntal: Ja, Herr, das müssen Sie selbst wissen, wenn Sie beigehen und nachdenken. Alle die Herrschaften sind Zeugen, daß ich Ihnen das Geschirr zwischen die Zähne gelegt hab, und ich kann Ihnen dazu gratulieren, wie Sie mit aussehen.

Bürgermeister: Geben Sie acht, Herr Boll, verzögern Sie um Gottes und Frau Bolls Willen Ihre Zustimmung, ich . . . ich weiß . . .

Boll: Ich auch, Herr Bürgermeister, ich weiß alles, wir sind aber nicht einer Meinung. (Zu Frau Boll): Was ich mir ausgedacht habe, Martha – geh voraus in die Kugel und laß anrichten. Und Otto, dem gib die Weinkarte in die Hand und laß ihn oben rechts Seite drei aufschlagen, da steht so'n halbes Dutzend stockfranzösische Namen, da kann er sich den unaussprechlichsten von ausklauben (sieht nach der Uhr). Ja, man kann sich mit dem Mann alles Mögliche erzählen – ich hab nur noch eine kleine Besorgung (faßt nach seinem Bauch). Muß vorsorgen für alle Fälle, die nach dem Essen ausbleiben oder nicht – 49 für'n paar Groschen weiße Krümel oder was zum Löffeln. (Zu Frau Boll): Muß noch eben beim Apotheker vorspringen – Herr Bürgermeister! (Ab.)

Bürgermeister und Frau Boll sehen sich an.

Holtfreter (heran, zu Grüntal): Hast dich ja schnell an die feinste Gesellschaft rangemacht, Grüntal, nu sollst mir auch ein Wort mit Herr Bürgermeister wahrnehmen lassen. (Zum Bürgermeister): Sie können gewiß nicht dafür, daß Ihre Anstalten noch nichts geholfen haben, aber von wo aus gehn denn nu die Anstalten vor sich?

Bürgermeister: Ach Gott, Herr Holtfreter, das geht alles nicht so schnell.

Holtfreter: Von schnell soll auch gar nicht die Rede sein, aber das ist im Gegenteil langsam, langsamer geht es überhaupt nicht.

Grüntal (zieht ihn fort): Siehst nich, Onkel Holtfreter, daß Herr Bürgermeister zu keinen Anstalten kommen kann, bloß weil du ihn nich ran läßt? (Beide ab.)

Bürgermeister: Wirklich, Frau Boll, eine bewundernswürdige Frau, die Frau Boll! Welche erstaunliche Selbstbeherrschung gegenüber so bedauerlichen Anwandlungen – ja geradezu Vergeßlichkeiten – Selbstvergeßlichkeiten Ihres Mannes!

Frau Boll: Da haben Sie gleich das rechte Wort zur Hand, Herr Bürgermeister – Vergeßlichkeit – sehen Sie, er vergißt förmlich, wer er ist.

Bürgermeister: Man könnte auch sagen: Verlorenheit.

50 Frau Boll: Als ob er sich selbst verloren hätte, ich weiß oft nicht mehr –  – so aus allen Hinsichten und Rücksichten heraus . . . ja, sehen Sie, einmal sagte er: Kind, sagt er zu mir, du bist eine herrliche Frau, das bleibt bestehen wies Donnerwort, da laß dir an genügen, sei zufrieden: eine herrliche Frau! Aber dann, wenn du das zugibst, sagte ich . . . Nichts von aber, schreit er mich an, kein Aber, eine herrliche Frau, das ist viel, sehr viel, wagt auch keiner, es zu bezweifeln . . . so!

Bürgermeister: Hm – ja, Frau Boll . . .

Frau Boll: Was meinen Sie?

Bürgermeister: Ja, sehen Sie, wir sprachen von seiner Selbstverlorenheit, sollte man sich nicht vorsichtig der Frage nähern und meinen, daß der verlorene, sozusagen der bisherige Herr Boll der falsche, dagegen der jetzige und neue, neugefundene Boll der wahre Boll wäre – wenigstens, meine ich, ist es die Frage wert.

Frau Boll: Ist das Ihr Ernst – das wäre doch graulich, meinen Sie nicht auch?

Bürgermeister: Schon heute morgen ließ die Unterhaltung mit Ihrem Mann in mir . . .

Frau Boll (flehend): Nein, Herr Bürgermeister, für solche Eröffnung kann ich nicht danken, welche Vorstellung und wo bleibe ich, wenn Boll, mein alter, guter Kurt, gar nicht mehr der alte ist!

Bürgermeister: Es bereitet sich unmerklich im Dunkel des persönlichen Erlebens manches Geschehen vor.

51 Frau Boll: Das, das, nein, das ist unnatürlich. Das, wenn das zuträfe, wäre ja gleichsam ein Ernstfall, ein Trauerfall – ich würde vorziehen, ihn im Grabe zu haben, denn da wüßte ich immer, wer es ist, der da liegt, wer es war und wie ich ihn mir fort und fort denken könnte – aber so – o Gott!

Bürgermeister: Frau Boll, ich bereue tief, Sie auf solche gewiß ganz fernliegenden Möglichkeiten hingewiesen zu haben – nein, o, nein, es ist unzweifelhaft im Grund mit Ihrem Herrn Gemahl voll und ganz bei der alten, ehrenfesten und eingewohnten Beschaffenheit.

Frau Boll: Meinen Sie wirklich, Herr Bürgermeister? Nicht wahr, er ist, Kurt ist – – aber das müssen Sie zugeben, daß er neuerdings hin und wieder – ich meine ja nicht, daß er darum gänzlich ein anderer wäre, nämlich, daß er nicht doch im Grunde, wie Sie selbst sagen, der gute, alte Kurt wäre, der er wirklich ist und immer gewesen ist und sein wird. (Weinend.) Ach, Gott, ich gräme mich fast zu sehr um ihn und was Sie da eben sagten, hat neulich auf Krönkhagen der alte Melkknecht Nierhaut in fast denselben Worten gesagt. Unsere Mamsell hat es mir hinterbracht. Ich muß aber jetzt wirklich ganz schnell zum Essen gehen – wir werden schon lange sehnlichst erwartet, eine sehr wichtige Verabredung! Leben Sie wohl, Herr Bürgermeister. Ich bin ganz steif vor Hunger.

Bürgermeister: Meine Gnädigste!

53 Viertes Bild

Dunkle Straße, hinter Fensterläden links hört man Kegelschieben, im Hause gegenüber kümmert Gesang. Im Hintergrunde über Dächern der Umriß des Doms. Grete kommt von hinten, schaut um sich und taucht ins Dunkel einer Mauerecke, Boll von vorn, kehrt um und steht still.

Grete (löst sich aus dem Schatten des Verstecks und tritt von hinten zu ihm).

Boll (kehrt hastig um und fährt mit der Hand über ihren Kopf): Bist du's?

Grete (bleibt stumm).

Boll: Aber doch die Hand, Grete!

Grete (reicht die Hand).

Boll: Du hast eine gute Hand, wie heilend kommts aus dir, mir wird besser, wenn du so was warme Wenigkeit herreichst – hörst du, daß du mir wohltun kannst, Hexe?

Grete: Ich kriege nichts zu fassen – hast du's in der Tasche? (Sie greift ihm in die Rocktasche.) Wo steckt es?

Boll: Er war nicht zu sprechen, es soll nicht sein.

Grete: Wenn du nichts bringst, wozu brauchst du auch zu kommen?

Boll: Du hilfst mir, Grete, schon hilfst du, wenn du kaum selbst willst. Wenn du wolltest . . .

Grete: Ich will nur, wenn du mir hilfst.

Boll: Es geht mir leichter vom Mund, wenn ich deine Hand halte – – also gib her, ich muß es dir doch erklären.

Grete: (gibt die Hand).

56 Boll: Sieh mal, Kind, solche Besorgung ist ein Witz – paar Worte sagen und die Groschen dafür, das ist wie mal gehustet und es war geschafft.