Er stützte sich auf die Hände. Er hielt den Atem vor Schmerzen an, er sog ihn in sich hinein. Und dann, dann brüllte er aus voller Kehle ein furchtbares Uuuu Aaaa.
Wie der Tod über dem Haus raste. Jetzt stand er hoch oben auf dem Dache, und unter seinen riesigen knöchernen Füßen saßen in ihren Betten, in ihren großen Sälen, in ihren Kammern, überall saßen die Kranken auf in ihren weißen Hemden, in dem Licht der spärlichen Lampen wie Gespenster, und das Entsetzen flog wie ein riesiger weißer Vogel durch die Treppen und die Säle. Überall drang das entsetzliche Brüllen hin, überall weckte es die Schläfer aus ihrem kraftlosen Schlaf und überall weckte es ein schreckliches Echo, bei den Krebskranken, die kaum entschlafen waren, denen nun der weiße Eiter wieder in ihren Därmen zu rinnen begann, bei den Verdammten, denen die Knochen wegfaulten, langsam, Stück für Stück, und bei denen, denen auf dem Kopf ein furchtbares Sarkom wucherte, das von innen heraus ihre Nase, ihren Oberkiefer, ihre Augen wegfraß, ausfraß, austrank, und riesige stinkende Löcher, große Trichter voll gelber Jauche in ihrem weißen Gesicht aufgerissen hatte.
In schrecklichen Tonleitern ging das Geheul herauf und herunter, wie von einem unsichtbaren Dirigenten gelenkt. Manchmal trat ein kurzes Intervall ein, eine kleine Kunstpause, geschickt eingefügt, bis mit einem Male in einer dunklen Ecke es wieder begann, langsam anschwoll und sich wieder in die allerhöchsten Töne verstieg, in ein schauderhaftes, langes und dünnes Jiii, das über diesem Sabbath des Todes schwebte wie die Stimme eines Meßpriesters über dem Gesange eines Kirchenchors.
Alle Ärzte waren auf den Beinen, alle liefen hin und her zwischen den Betten, in denen die roten geschwollenen Köpfe der Kranken staken wie große Rüben in einem herbstlichen Acker. Alle Krankenschwestern rannten mit ihren flatternden weißen Schürzen in den Sälen herum, große Morphiumspritzen, Opiumdosen schwingend, wie die Ministranten eines seltsamen Gottesdienstes.
Überall wurde getröstet, beruhigt, eingeschläfert, überall machte man Morphium- und Kokaininjektionen, das Chaos zu besänftigen, überall wurde dementiert, an allen Betten wurden beruhigende Bulletins ausgegeben. Die Säle wurden alle erleuchtet, und mit dem wiederkehrenden Lichte schienen die Schmerzen der Kranken langsam nachzulassen. Das Gebrüll starb langsam ab, es ging in ein leises Gewimmer über, und der Aufstand der Schmerzen endete in Tränen, Schlaf und stumpfer Resignation.
Jonathan fiel in eine dumpfe Betäubung. Der Schmerz hatte sich ausgerast, er war zuletzt erstickt in Apathie.
Aber nachdem die Qual ihn verlassen hatte, begannen seine Beine anzuschwellen, wie zwei große Leichname, die in der Sonne aufgehen. Seine Knie schwollen im Verlauf einer halben Stunde zu Kindskopfgröße, seine Füße wurden schwarz und hart wie Stein.
Als bei der Morgenrunde der Arzt vom Dienst bei ihm eintrat und die Decke aufhob, sah er unter dem Verband die gewaltigen Schwellungen. Er ließ die Verbände abwickeln, er warf nur einen Blick auf die verwesenden Beine, dann klingelte er dreimal, und nach ein paar Minuten wurde ein fahrbarer Operationsstuhl hereingeschoben. Ein paar Männer legten den Kranken auf das Gestell. Sie fuhren ihn heraus, und das Zimmer blieb eine halbe Stunde leer.
Danach wurde der Operationsstuhl wieder hereingeschoben. Darauf lag der kleine Jonathan, bleich, mit aufgerissenen Augen, um die Hälfte kürzer gemacht. Wo vorher seine Beine gewesen waren, war jetzt ein dickes blutiges Bündel von weißen Tüchern, aus denen sein Leib aufragte wie der Körper eines exotischen Gottes aus einem Blumenkelch. Die Männer warfen ihn in das Bett und verließen ihn.
Er war eine Weile ganz allein und der Zufall wollte es, daß er in diesen wenigen Minuten noch einmal seine Bekannte vom Zimmer nebenan wiedersehen sollte.
Wieder ging die Tür auf, wieder sah er ein weißes Gesicht. Aber es schien ihm fremd, er konnte sich seiner kaum noch erinnern. Wie lange war das her, daß er mit ihr gesprochen hatte.
Sie fragte ihn, wie es ihm ginge.
Er gab ihr keine Antwort, er hörte nicht, was sie fragte, aber er versuchte krampfhaft, die Decke möglichst weit über seine verbundenen Beinstümpfe heraufzuziehen. Sie sollte nicht sehen, daß unterhalb seiner Knie ein Loch war, daß da alles zu Ende war. Er schämte sich. Die Scham war das einzige Gefühl, das ihm geblieben war.
Das junge Mädchen fragte ihn noch einmal. Als sie wieder keine Antwort bekam, drehte sie ihren Kopf weg.
Eine Schwester kam herein, sie schloß lautlos die Tür, sie setzte sich mit einer Handarbeit an sein Bett. Und Jonathan fiel in einen unruhigen Halbschlummer, von den Nachwehen der Narkose betäubt.
Plötzlich schien es ihm, als wenn sich die Tapeten des Zimmers an einigen Stellen bewegten. Sie schienen leise hin und her zu zittern und sich aufzubauschen, als wenn dahinter jemand stände, der sich gegen sie anstemmte, um sie zu zerreißen. Und siehe da, mit einem Male zerrissen die Tapeten unten am Fußboden. Wie ein Haufe Ratten quollen darunter ganze Heerscharen kleiner winziger Männchen hervor, die bald das ganze Zimmer anfüllten. Jonathan wunderte sich, wie so viele von den Zwergen hinter der Tapete sich hatten verstecken können. Er schimpfte über die Unordnung im Krankenhause. Er wollte sich bei seiner Wärterin beschweren, aber als er sie an sein Bett winken wollte, sah er, daß sie nicht da war.
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