Endlich mußte etwas getan werden, sonst war es zu spät. Man mußte endlich das letzte tun, sie anfassen. Und in der nächsten Sekunde mochte das Dunkel kommen und die Erde aufstehen und der Himmel einbrechen, Nacht, Geschrei, Feuer und Lärm, und der Ozean wie ein rasender Sturm über den Abend hinaufsteigen und die Lichter der Sterne verlöschen. Vielleicht hielten sie schon ihre Hand über ihn. Und er sah noch einmal verstohlen hinauf.

Dann bewegte er seine linke Hand mit gespreizten Fingern langsam gegen das Bild vor, während er die Rechte zum Kampfe geballt hielt.

Er berührte ihre Hände, nichts rührte sich. Er faßte ihren Kopf an, nichts, gar nichts.

Er berührte sie auch mit der rechten Hand, niemand rührte sich, alles blieb still, alles blieb dunkel.

Da faßte er das Bild an dem Rahmen, hob es aus den Scharnieren, legte es auf den Boden, umwickelte es mit dem Papier des Paketes, das er mitgebracht hatte, und nun sah es so aus wie das Paket selbst. Einen Augenblick lehnte er sich gegen die Wand. Dann nahm er das Bild unter den Arm und ging hinunter. Der Wächter schloß ihm auf, sie wünschten sich einen guten Abend, und er verschwand in die Nacht.

Am nächsten Morgen wußten schon alle Zeitungen vom Diebstahl der Monna Lisa Gioconda.

Man nahm sofort die Wärter ins Gebet, aber sie hüteten sich natürlich, ihre eigene Nachlässigkeit zu verraten. Sie hatten einfach nichts gesehen, sie wußten gar nichts.

Hunderte von Protokollen wurden aufgenommen, ganze Scharen armseliger Strolche wurden auf allen Landstraßen Frankreichs aufgegriffen und peinlichen Verhören unterzogen. Riesige Schwärme von Detektivs nisteten auf jedem Ozeandampfer, Hunderttausende von Polizisten liefen hinter hunderttausend verschiedenen Spuren her. Alle Mörder und Diebe hatten gute Tage, und alle Kunsthistoriker begannen, in rasendem Tempo zu verdienen. Ganz Paris geriet in einen wilden Taumel, und jeder Vorstadtbudiker mußte ein Bild der Monna Lisa über seinem Bette haben. –

Eine florentinische Frühlingsnacht. Über den runden und dunklen etrurischen Bergen unten am schwarzen Himmel zitterte ein sanftes Licht wie eine Dämmerung. Und der Mond ging über ihnen herauf.

Plötzlich lagen alle Straßen, die von den Bergen herunterkamen, in seinem weißen Licht, und alle Dächer und Türme der Stadt unter ihm tauchten aus der Nacht, aufgelöst, ohne Umrisse, wie die Städte eines träumerischen Königreiches. Die silbernen Vierecke des Flusses lagen glänzend zwischen dem Dunkel der Brücken.

Er drehte sich um, da hing ein Strahl des Mondes in ihren Augen wie ein goldener Tropfen.

Sie war undeutlich zu sehen, der Schatten des Vorhanges bewegte sich über ihrem Gesicht. Nur ein Streifen vom Kinn bis zu der Stirn war frei und leuchtete im Mondlicht. Vielleicht weinte sie?

Ach wenn sie geweint hätte, nur einen einzigen Tropfen, eine einzige Träne der Reue.

Er riß den Vorhang ganz vom Fenster zurück, ehe sie auf seine Bewegungen achtgeben konnte. Er hatte schon richtig vermutet, ihr fiel gar nicht ein, zu weinen. Auf diese Stirn voll Laster wagte sich kein Gedanke der Reue herauf. Sie blühte noch immer in ihrer Frechheit, die erst die Hand des Todes von ihrem Munde herunterjagen würde.

Sie hatte sich um nichts gebessert, seitdem er sie hier eingesperrt hatte, sie war nur noch böser geworden, diese Hure da. Vielleicht war der Satan jede Nacht bei ihr gewesen, während er durch die halbe Welt geflohen war, um seine Liebe zu ihr zu vergessen.

Wieviel verweinte Nächte, Teufel, Monna Lisa Gioconda, Gott.

Als er nach Florenz gekommen war, hatte er dieses kleine Haus über der Stadt gemietet. Und gleich in der ersten Nacht hatte er sie umbringen wollen. Ja, damals vor drei Jahren, da war er noch stark gewesen. Ach ja, und jetzt? Alle Leute auf der Straße lachten ihm ins Gesicht.

Er hatte schon einmal das Messer an ihren Augen gehabt, aber er hatte nicht zustoßen können. Denn eine bittere Erkenntnis hatte ihn schwach gemacht, er hatte plötzlich gewußt, daß er sie liebte. O mein Herrgott, das war das Furchtbarste, diese verzweifelten Kämpfe, die damals begonnen hatten, wochenlang. In jeder Nacht, wenn er ihre Augen nicht zu fürchten hatte, hatte die Spitze des Messers über ihrem Gesicht gestanden, aber jedesmal hatte er seinen Arm wieder sinken lassen, und dort in dem Winkel hat er dann immer gesessen, in sich gekrochen wie ein geprügelter Hund, und er hatte nicht mehr gewagt, sie anzuschauen.

Eines Tages hatte er sie hier versteckt und eingeschlossen. Und dann war er fort, wer weiß durch wie viele Städte vom Orkan seiner Liebe immer herumgejagt um Florenz, durch Spanien, Tunis, Griechenland, über die Alpen fort, immer im Kreise wie ein kleiner Komet, der sich nicht mehr aus der Sphäre einer übermächtigen Sonne herausreißen kann.

Endlich konnte er nicht mehr.