Nachdem Kronenberg ein Weilchen gewartet hatte, bestieg er sein Pferd. Wo ist Graf von Burchheim? rief er noch einmal zum Fenster hinauf. Hier! rief Jemand hinter dem Thorwege hervor, und im nämlichen Augenblicke sprang auch der junge Wehlen lachend zum Reiter hin. Dieser aber, im äußersten Grade zornig, holte mit der Reitgerte aus, und gab mit dieser dem Spötter einen Hieb ins Gesicht. Wehlen, diese Begegnung nicht vermuthend, sprang erst zurück, gab aber dann mit einem Stocke dem Pferde, das schon davon sprengte, einen so derben Schlag, daß es sich in seinen schnellsten Lauf setzte, und mit Lebensgefahr des Reiters durch die Gassen und das Thor rannte. Die ganze Stadt gerieth in Aufruhr, und gab den jungen Mann verloren. Im Freien setzte das Thier über den Graben am Wege, rannte durch frisch geackertes Feld, und stürzte endlich ermattet nieder. Kronenberg besann sich bald, half dem Gaule wieder auf, und suchte über Wiesen, Fußstege und durch Wald die Landstraße wieder zu gewinnen.
Bei heiterm Sonnenwetter streifte er durch die schönen Gegenden, hielt sich zuweilen in den Städten länger auf, machte Bekanntschaften, verweilte an den Badeorten, und suchte sich zu beschäftigen und zu zerstreuen. Jetzt war er in die Thäler eines romantischen Gebirges eingedrungen, und der Wechsel von Wald und Berg, Hügel und Wiese, ergötzte ihn innig. Nur mußte er sich gestehn, daß das Verhältniß, in welchem er zu seinem Pferde stand, immer lockerer zu werden drohe; er konnte sich nicht verschweigen, daß das Thier fügsamer und verständiger gewesen sei, da er es erst überkommen. Keine der alten Tücken war ihm abgewöhnt worden; es hatte sich seitdem viele neue angeeignet, und war jetzt in manchen Stunden kaum zu bezähmen. Im Stillen war Kronenberg schon mit sich überein gekommen, es bei einer vortheilhaften Gelegenheit zu verkaufen oder umzutauschen.
Am heutigen Tage war das Wetter besonders warm, und der abentheuernde Reisende fühlte sich wieder wohl und zufriedener, als er seit einiger Zeit mit sich selber gewesen war. O, du liebliche Natur, sagte er fast laut, indem er langsam an Hügeln und Rebengeländern hinritt, wie hast du doch Balsam und Trost für jeden Schmerz! O, du erhabenste Lehrerin! wer nur immer fähig und offenen Sinnes genug wäre, deine Worte zu vernehmen und zu verstehen! Wie bist du so lauter und so wahr! Vom heitern Himmel weht und tönt die reine Liebe, aus dem Walde klingt ein heiliges Rauschen, die Wässer plaudern mit süßer Geschwätzigkeit, die Bergströme brausen, und über Flur und Wiese und Wald weht ein Geist der Eintracht, Lauterkeit und Wahrheit. Die Thiere, die Vögel, das schwimmende Geschlecht, sie alle sind und bleiben ihrem Berufe getreu. Kaum daß der hochbeinige Storch dort am Weiher mit seinem abgemessenen Gange etwas mehr Gravität affectirt, als er gerade nöthig hätte, und die kleine Bachstelze mit einiger übertriebenen Munterkeit hin und her wipt, und für witziger angesehen seyn will, als ihr wohl zu Muthe seyn mag. Aber, der Mensch – der arme Mensch! Kaum ist ihm die Zunge gelöst, so umfängt ihn schon im ersten Lallen die Lüge, und läßt ihn auch nicht wieder los; selbst seine innersten Gedanken werden unwahr, seine Pulse heucheln, und er verliert im Labyrinth der Zweifel, der Entschuldigung, des Aufputzes, der Eitelkeit sich selbst. Und doch ist es so bequem, ehrlich und wahr zu seyn. Die Sache selbst, wenn die Lüge kaum Schatten zu nennen ist. Hat denn wohl Affectation und durch Lüge erzwungenes Lob und Bewunderung meinem Herzen nur einige der Schmerzen, der Vernichtungen vergüten können, die es erdulden mußte, wenn man meiner Armseligkeit auf die Spur kam, oder sie ganz entdeckte? Ja, von heut, von jetzt an will ich allen Täuschungen entsagen, und das Leben selbst finden, das sich mir bisher immer hinter Schattengebilden verborgen hielt.
Er sah in der Ferne einen angenehmen Landsitz vor sich liegen: ein geräumiges Haus, ziemlich in altem Styl gebaut, daneben ein Obst- und Gemüsegarten, Springbrunnen, und hinten ein großer Park, das Ganze mit einer Mauer umschlossen. Als er näher kam, bemerkte er, daß die Landstraße links vor dem Hause, neben der Mauer vorbeiführe: aber das große Thor in dieser war ganz geöffnet, und durch dieses übersah er schon den innern Hof. Auf einer großen Rampe des Schlosses waren viele Menschen versammelt; er unterschied einige hübsche Mädchengesichter; es that ihm schon leid, daß er nicht mit Schicklichkeit über den Hof reiten dürfe, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Als wenn sein Pferd diesen seinen Gedanken gefühlt hätte, und ihm seinen Wunsch erleichtern wollte, setzte es sich jetzt, von seinen Tücken bestochen, in das stärkste Rennen, und damit gerade auf den Thorweg zu. So wie die versammelte Menschenmasse auf der breiten Treppe das bemerkte, sprangen einige von dieser herab; alle aber streckten die Arme aus, und riefen: Vetter! Cousin! theurer Vetter! Endlich da! – Das Roß, von dieser Bewillkommnung aufgemuntert, achtete nun nicht mehr des Zaums und der Sporen, sondern stürzte schnell weiter, und schon war, allem seinen Ablenken zum Trotz, der beschämte Kronenberg im Hofe. Das Freudengeschrei der eingebildeten Verwandten nahm zu, und der geängstete Reiter fürchtete, das Pferd würde nun eben so toll und blind mit ihm zu dem Thorwege gegenüber hinaussetzen, und die schnell enttäuschte Vetterschaft der zu rasch vorüber eilenden Erscheinung ein schallendes Gelächter nachsenden. Um dies zu verhüten, wandte er alle Mittel an; er wollte halten, die Gesellschaft um Verzeihung bitten, und dann im ruhigen Schritt weiter reiten. So hatte er beschlossen; aber ganz ein anderes sein unbezähmbares Roß. Dieses bäumte, sprang von der Seite, und da Kronenberg jetzt selbst die kalte Fassung verlor, schlug es mit ihm über, und warf ihn im Fall gegen den steinernen Brunnen des Hofes. Blut rann ihm in die Augen, und das letzte, was er hörte, war ein gellender Aufschrei. Alle liefen hinzu; aber schon war um ihn Nacht – er hatte die Besinnung verloren.
Jene große Begebenheit, welche Deutschland völlig zu vernichten schien, war indessen eingetreten. Alle Dinge veränderten plötzlich ihre Gestalt, und man konnte voraus sehn, daß binnen wenigen Jahren auch jene Einrichtungen, die für jetzt noch bestanden, dem neuen Geiste würden weichen müssen.
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