Eine allgemeine Lähmung hatte die Gemüther ergriffen. Denn bei einer so ungeheuren und schnellen Umkehrung fühlen die meisten Menschen ihr Unglück weniger, als wenn sie vorbereitet zu seyn scheinen, und allgemach von der gewohnten Lage scheiden sollen. Die Nothwendigkeit ist eine strenge Lehrerin, und man gesteht sich selber nicht, wie unbedingt man ihr folgt, da sie keine Einrede annimmt und keinen Aufschub gestattet. Waren die Patrioten einer Verzweiflung hingegeben, in der sie, fast wie im Sturm, alle übrigen Güter schnell mit dem Leben hätten über Bord werfen mögen, so triumphirten dagegen die Neuerungssüchtigen, und konnten eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen, daß nun wenigstens alles das würde weichen müssen, wogegen sie so oft und manchmal vor tauben Ohren gepredigt hatten. Der gemeine Mann war betäubt; er litt und klagte, ohne viel zu denken, und Greise, die sich für erfahrner hielten, meinten unschuldig genug, dieser Krieg würde, wie frühere, mit allen seinen Folgen vorübergehn, und dann den Dingen wieder Platz machen, die er nur auf einen gewissen Zeitraum verdrängt habe.

Manche Woche hindurch hatte Kronenberg auf seinem Krankenbett gelegen, und weder von großen noch kleinen Begebenheiten Kunde empfangen; denn sein Bewußtsein war noch immer nicht zurück gekehrt, und der Arzt hatte ihn mehr wie einmal für verloren gehalten. Der Kranke sprach nicht, und schien auch weder zu sehn, noch zu hören. Die ganze Familie war abwechselnd um ihn beschäftigt, am gütigsten die Mutter, die in seiner Pflege unermüdlich war. Dies war um so verdienstlicher, da der große Haushalt, dem sie selber vorstand, schon ihre ganze Thätigkeit forderte; um so mehr jetzt, da das Gut von täglichen Durchmärschen und Einquartierungen geplagt wurde. Oft war das große Haus so besetzt, daß das Getümmel sogar bis in die abgelegene Krankenstube drang, und wenn selbst die Wärter sich oft ängsteten, so ging dem Betäubten wenigstens für jetzt alle diese Unruhe unbewußt vorüber. Die Töchter des Hauses, so wie der Vater, sahen den Leidenden oft, den sie für ein Mitglied ihrer Familie hielten; aber manche gerngesehene Besuche aus der Nachbarschaft, so wie Reisende, am meisten aber die unwillkommenen Gäste, störten und schwächten die Theilnahme, die sich für den Kranken ohne diese Umstände noch stärker würde ausgesprochen haben.

Der erste Schnee fiel wieder. Der Arzt und die Gräfin waren nebst der Wärterin und einem alten Diener in der Krankenstube zugegen. Da erhob sich der Kranke plötzlich im Bett, setzte sich aufrecht, betrachtete die Umstehenden, und schaute dann nach dem Fenster, das nur halb mit den Vorhängen verhüllt war. Ha! rief er aus: ist die Equipage noch nicht da? Ich fürchte, der Christoph wird mit der Bärenmütze und seinem Schaafpelz ganz allein ankommen; aber sorgen Sie doch wenigstens für den edlen Unbekannten dort in seinem Stübchen, – ich will ja gerne alles vergüten, Frau Wirthin.

Himmel! rief die Gräfin, er hat den Verstand verloren. – Er phantasirt wohl nur, meinte der Arzt: doch da er den Puls des Kranken untersuchte, zweifelte er auch daran, und meinte, diese Reden entständen vielleicht nur durch Erinnerungen, die in Krankheiten oft plötzlich hervortreten, indessen andere, zwischen liegende Zustände auf lange wie verschüttet wären. So war es auch mit dem Patienten, der immer noch in jenem Gasthofe zu sehn glaubte, in welchem er im ersten Frühjahr die Nachricht von seinem Freunde Wildhausen erwartet hatte; vielleicht war es das Schneegestöber, welches gerade diese Momente wieder hervor rief. Der Arzt erklärte ihn übrigens für gerettet, und meinte, mit den zunehmenden Kräften würde das Gedächtniß auch wieder nach und nach zurück kehren.

Am folgenden Tage fand der Arzt den Kranken schon um vieles besser. Er konnte seine Erinnerungen schon deutlicher und sicherer verknüpfen; nur wie er hieher gekommen sei, unter welchen Umständen, dies blieb ihm noch völlig dunkel. Nächst dem Himmel, sagte der Arzt, haben Sie der verehrungswürdigen Gräfin Ihre Rettung zu danken; eine solche mütterliche Pflege vermag mehr als alle Aerzte. Die Gräfin kam wieder und leistete dem Patienten Gesellschaft, als der Doktor sich entfernt hatte. Sie freute sich, ihn gerettet, ihn selbst schon in der Besserung zu finden. Aber, rief Kronenberg, wie komm' ich nur hierher? Wie verdiene ich diese Güte? Wer sind Sie, Verehrte? Wie kann ich nur danken für alle diese Liebe?

Schweigen Sie, antwortete die Gräfin, der Arzt hat Ihnen das Reden noch strenge verboten. Können Sie Ihre Erinnerung denn immer noch nicht sammeln, daß wir Sie, theurer Vetter, schon seit lange erwarteten? Endlich schreiben uns entfernte Verwandte, welchen Tag Sie eintreffen werden; Sie erscheinen, und indem wir Ihnen schon die Arme entgegen strecken, wirft ein entsetzliches Schicksal Sie blutend, zertrümmert vor unsere Füße hin. Was wir dabei gelitten, können Sie ermessen – ich, mein Mann, alle meine Kinder, die wir uns so herzlich auf Ihre Bekanntschaft freuten. Von Cäcilien will ich gar schweigen.

Cäcilie? rief der Kranke, wie entsetzt; sie ist hier?

Wo sollte sie sonst seyn? fuhr die Gräfin fort. Doch, davon, wenn Sie besser sind. Das arme Mädchen hat unendlichen Kummer geduldet. Wie sonderbar, wie schmerzhaft haben wir uns müssen kennen lernen.

Durch öftere Besuche, sowohl vom Arzt wie von der Familie, konnte der Leidende sich endlich so viel zusammen setzen, daß man ihn für einen Baron Feldheim halte, den man an jenem Tage erwartet habe. Er mußte vermuthen, daß es ein Plan, gewesen sei, ihn mit der ältesten Tochter dieses gräflichen Hauses Werthheim zu verbinden. Er lernte nach und nach alle Mitglieder der Familie kennen, und als er sich schon wohler fühlte, besuchten ihn selbst die Töchter auf Augenblicke, und diese, so wie die Söhne, fand er liebenswürdig; die Aeltern mußte er verehren, aber eine selige Empfindung durchdrang ihn, wenn er auf Minuten Cäcilien erblickte; denn ihm war alsdann, als wenn sich eine himmlische Erscheinung seinem Lager nähere.

Die Krankheit machte es ihm unmöglich, viel über seine sonderbare Lage nachzudenken, noch weniger über sie zu sprechen; er ließ sich also schweigend alle Pflege und die herzliche Liebe gefallen, die ihm mit dem natürlichsten Ausdrucke entgegen gebracht wurde. In einsamen Stunden nahm er sich vor, den Irrthum, in welchem Alle befangen waren, aufzuklären, so wie er sich nur stärker fühlte; aber er schauderte schon jetzt vor diesem Augenblick, und ließ also im wohlthuenden Leichtsinn Stunden, Tage und Wochen hinschwinden.