Wenn ihn sein Gewissen mahnte, so beschwichtigte er es mit der schwachen Ausrede, daß er diesen Zustand nicht herbei geführt, daß er den Irrthum nicht ersonnen, die Familie also auch nicht hintergangen habe.
O Cäcilie! sprach er in einer stillen Nacht zu sich selber; jetzt bist du gerächt, denn dieser Engel hier zerreißt mir Herz und Seele; ich kann nicht gesunden; ich kann nicht bleiben und nicht reisen. Ach, welch' ein armer, elender Mensch, wie nichtig bin ich doch Zeit meines Lebens gewesen! Kann nicht Reue, ernster Wille alles wieder gut machen? Ja, ich fühle neue Kräfte in meinem Innern erwachen; vielleicht ist mir noch nicht alles Heil verloren.
Mit den zunehmenden Kräften kehrte dem Kranken immer mehr die Erinnerung zurück. Er durfte es jetzt schon wagen, anfangs nur auf kurze Zeit, die Wohnzimmer und den Saal zu besuchen, in welchem die ganze Gesellschaft zu Zeiten versammelt war. Das erstemal war Kronenberg einer Ohnmacht nahe, als er bei den vielfachen Reden, unter den verschiedenartigen Gestalten, auch seinen Theil am Gespräch nehmen und durchführen sollte. Die Familie, welche er schon kannte, war zugegen; Cäcilie saß einsam an einem Fenster, und leuchtete ihm wieder wie eine Erscheinung entgegen; die zweite Tochter, blond und voll, und immer heiter, spielte mit einem alten, mürrischen Officier der Fremden Schach. Die Mutter erklärte dem Kranken, es geschähe hauptsächlich, um diesen bösen Menschen, der als Kommandant auf diesem Schlosse wohnte, in guter Laune zu erhalten. Die jüngste Tochter, Leonore, sprach mit einem jüngern, sehr höflichen, feinen Franzosen, und die beiden Brüder hatten sich dieser Gruppe ebenfalls zugesellt, um den Fremden von seinen Feldzügen erzählen zu hören. Die Mutter, mit ihrer Arbeit beschäftigt, sprach mit einem Musiker, einem Freund des Hauses, der oft zum Besuch hinkam, und als geistreicher Freund, besonders in diesen bedrängten Zeiten, der Familie fast nothwendig geworden war. Der Vater ging ab und zu, und war oft im Gespräch mit einem stillen jungen Manne, einem entfernten Verwandten des Hauses, dem auch Cäcilie viele Aufmerksamkeit schenkte, indeß der Musiker ihn oft mit scheelen Blicken von der Seite betrachtete.
Natürlich gratulirten alle dem Genesenden, und die vielen Danksagungen, die Rührungen, die er erwiedern, die vielseitigen Theilnahmen, auch der ganz Fremden, die er beachten mußte, dies alles erschöpfte ihn so, daß er kaum zu diesen Anstrengungen die gehörigen Kräfte aufbieten konnte. Man bedachte nicht, daß es für den Schwachen die größte Aufmerksamkeit seyn würde, ihm Ruhe zu gönnen. Doch war alles leichter zu überstehen, als die Zärtlichkeit eines alten greisen Mannes, der nicht müde werden konnte, ihn zu umarmen, ihn gerührt und mit Thränen an seine Brust zu drücken, und mit zitternder Stimme zu erzählen, wie sehr er an jenem Tage erschrocken sei. Er ward endlich fast mit Gewalt entfernt, und die Mutter sagte halb scherzend: Sie müssen meinem guten alten Bruder schon verzeihen; er macht freilich die Verwandtschaft etwas zu sehr geltend; man muß ihn bei seinem Alter schon gewähren lassen.
Als Kronenberg länger im Saale blieb, bemerkte er, durch Krankheit und lange Entfernung von den Menschen an allen Sinnen geschärft, daß der junge Verwandte, Emmerich, eine Leidenschaft für Cäcilien zu verbergen suche, und dies um so mehr, da der Musiker jeden seiner Blicke bewachte; Cäcilie schien dem Liebenden mit einer gewissen Aengstlichkeit auszuweichen, und ergriff die erste Gelegenheit, sich recht vertraut zum Kranken hinzusetzen, um viel und angelegentlich mit ihm zu sprechen. In diesem Gespräch entwickelte sie den Reiz eines schönen Gemüthes, die Rührung eines Herzens, das bis dahin noch keinen gefunden hatte, dem es ganz im vollen Vertrauen entgegen kommen konnte. Kronenberg fühlte sich beschämt, da er nicht begriff, wodurch er diesen Vorzug verdiene; aber doch war ihm im Leben noch nie so wohl geworden. Der jüngere Officier näherte sich ihnen ebenfalls, und sprach so freundlich zu Kronenberg, als wenn er diesen schon seit vielen Jahren gekannt hätte. Cäcilie nahm die erste Gelegenheit wahr, sich zu entfernen. Als sich hierauf der Musiker in das Gespräch mischte, und auf bittere Weise von den Mitgliedern der Familie sprach, ward Kronenberg ängstlich, und wünschte sich zu entfernen. Aber bald gewann alles eine andere Gestalt; denn Adjutanten sprengten vor das Schloß und meldeten, daß der Marschall auf seiner Reise für diese Nacht hier einkehren werde. Die Officiere gingen ihm entgegen, der Herr des Hauses ward gerufen. Alles gerieth in Bewegung; und nach einiger Zeit erschien ein stattlicher Mann, der höflich und mit feiner Lebensart den Grafen und die Gräfin begrüßte, und diese, da schon angerichtet war, zur Tafel führte. Sein Betragen war so sein, daß er Niemand in Verlegenheit setzte; vielmehr fühlten sich alle behaglicher, als gewöhnlich, und alle waren in unbefangener Heiterkeit auch liebenswürdiger, als sonst. Nach aufgehobenem Tische benutzte Kronenberg die allgemeine Verwirrung, um sich unbemerkt wieder auf sein einsames Zimmer zurückzuziehn. Erschöpft warf er sich auf das Bett, und überdachte seinen sonderbaren Zustand. Noch niemals in seinem Leben war ihm so wohl und weh gewesen: ihm dünkte, er sei noch niemals mit Menschen umgegangen; alle seine bisherigen Bekannten und Freunde erschienen ihm nur als hohle Larven, die er nicht begriff, und die ihn nicht verstanden, bei denen es sich auch des Verständnisses nicht verlohnte. Glaubte er doch auch erst jetzt aus einem dumpfen Schlafe erwacht zu seyn, der bis dahin alle seine Sinne gefesselt hatte. Wenn ihm die Freundlichkeit der übrigen Menschen nur als eingelernte Grimasse erschien, so lernte er jetzt erst fühlen, was Vertrauen, Glauben und Liebe sei. Und doch, fuhr er in seinen Betrachtungen fort, ist es vielleicht nur eine kranke Stimmung, die mir die Dinge in diesem Lichte zeigt, und eine künftige Gewöhnlichkeit wird mich wohl wieder eines andern belehren, und hofmeisternd meinen jetzigen Zustand Ueberspannung schelten. Und kann ich denn diese zarte Liebe, dieses holde Entgegenkommen mir aneignen? Gilt es denn nicht vielmehr einer erlogenen Maske, einem unbekannten Fremden? Wie qualvoll ist mein Zustand, daß ich nicht der seyn darf, der ich seit dem Erwachen meiner bessern Kräfte seyn möchte!
Indem er so mit sich selber schalt, und eine Wehmuth sich seines ganzen Wesens bemächtigte, hörte er leise an seiner Thür, die er verschlossen hatte, rascheln. Nicht lange, so ward ein Schlüssel umgedreht, vorsichtig, aber doch mit einigem Geräusch, und sie öffnete sich. Kronenberg, von einem Schirme verdeckt, konnte das ganze Gemach überschauen.
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